Historical Weihnachtsband 1990
1. KAPITEL
Es schneite. Langsam schwebten die Schneeflocken im Licht der Gaslaternen auf die Bäume im abendlichen Garten. Die Fichte vor dem Fenster war bereits dick wie mit Puderzucker überstäubt, und die Ahornbäume am Torweg schienen sich in zarte Gewebe aus Zuckerwatte verwandelt zu haben. Unten, auf der breiten Straße, tauchte ein Wagen auf. Es lag noch nicht genug Schnee, um einen Schlitten zu tragen, doch hatte der Fahrer, vielleicht vom Schneetreiben dazu angeregt, Glöckchen am Zaumzeug der Pferde befestigt. Sie bimmelten, als die Tiere vorübertrotteten und zwei Spuren hinterließen. Bald darauf bedeckte der Schnee sie wieder.
Endlich, dachte Mary Hillyer und trat dichter an das große Fenster, um der Kutsche nachzuschauen. Und es ist höchste Zeit, fügte sie in Gedanken hinzu, denn unter diesem ersten Schnee lagen nur die blanke, gefrorene Erde und das vergilbte Gras des letzten Sommers. Es war der 15. Dezember, zehn Tage vor Weihnachten, und trotz der eisigen Temperaturen hatte es bisher nicht geschneit. Die ersten Flocken waren, zur Freude aller, während des Abendessens gefallen. Eveline war hinausgeeilt und mit feuchten Stellen im Gesicht sowie dem Wunsch zurückgekehrt, daß es genug schneien möge für weiße Weihnachten.
Im Raum war es sehr heiß. Mary preßte die Stirn an die kühle Glasscheibe, während sie zusah, wie sich die Welt aus einer gepflegten Allee in Neuengland in ein Märchenland verwandelte. Die klingenden Glöckchen und die weiße Landschaft weckten alte Erinnerungen an Schlittenfahrten und Spaziergänge im Wald auf der Suche nach Zweigen von Stechpalmen, Misteln und Kiefern, die sie in einem Sack nach Hause gebracht hatten.
Schon seit Jahren hatte Mary für solche Dinge keine Zeit mehr gehabt, doch die kostbaren Bilder hatten sich ihr unauslöschlich eingeprägt. Selbst in diesem Augenblick, in dem stickigen Zimmer, spürte sie im Geist das Prickeln eiskalter Wangen und die Zartheit der Stechpalmenzweige, die sie gebrochen hatte. Mary erinnerte sich des Dufts, der aus den Kesseln mit kochendem Pflanzensaft gestiegen war, wenn der Bauer einen Zinnbecher hineingetunkt hatte. Dessen Inhalt hatten sie dann in den Schnee geschüttet und goldfarbene, gewundene Stückchen erhalten, die einem süß auf der Zunge zergangen waren.
Ja, das war zauberhaft gewesen, doch die Schlittenfahrten hatten ihr immer am meisten Freude bereitet. Unter Glockengeläut waren sie bei Dunkelheit über das schneebedeckte Land gefahren, dicht in Pelzmäntel eingepackt und mit im Ofen gebackenen Kartoffeln in der Tasche, damit die Finger warm blieben. Und danach hatte es heißen Apfelmost mit Zimtstangen gegeben, und sie - Mary - hatte am ganzen Körper gebebt, wenn sie wieder im Warmen war . . .
Der Wagen war verschwunden und das Glockengebimmel verhallt. Der Seufzer, mit dem Mary in die Wirklichkeit zurückkehrte, beschlug das Glas. Mary hob eine Hand, um die Scheibe abzuwischen. Doch dann griff sie, einer Eingebung folgend, zum Schnappriegel und öffnete das schwere Schiebefenster. Begeistert spürte sie, wie die kalte Luft sie umfing, und sie beugte sich hinaus, um sich an dieser wunderbaren Nacht zu erfreuen.
Sie war wirklich herrlich, still und doch voller Leben. Der Himmel hatte die besondere Farbe mit einem Hauch von Rosa, die er nur bei Weihnachtsschnee bekam. Die Luft war durchdrungen vom Duft feuchter Kiefern und einer Vorahnung auf Dinge, die in der Zukunft lagen. Mary schloß die Augen, und das Herz ging ihr auf vor Glück. Doch gleichzeitig überfiel sie eine Sehnsucht, die so groß und schmerzlich war, daß Mary fürchtete, darin zu versinken, wenn sie das Gefühl wachsen ließ. Aber sie konnte es auch nicht unterdrücken, konnte sich nicht von diesem Abend abwenden. War es nur, weil Weihnachten vor der Tür stand? Es schien soviel mächtiger, als kämpfte etwas, das tief in ihr vergraben lag, um Freiheit. Als ob . . .
„Zum Teufel", wurde sie von einer Stimme hinter ihr aus ihren Gedanken gerissen, „mach das verflixte Fenster zu, Mädchen, bevor wir alle erfroren sind!"
Einen einzigen Herzschlag lang blieb Mary wie erstarrt. Sie sah die Bilder verblassen und spürte, wie sich ihr Inneres zusammenzog. Dann richtete sie sich seufzend auf und schloß das Fenster, ehe sie sich dem alten Mann im Bett zuwandte.
„Es tut mir leid, Grandfather." Ihr Lächeln zeigte nur einen Hauch von Bedauern.
„Ich wollte nur den Schnee riechen."
„Riechen, ja?" schnaubte lsaiah Hillyer
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