Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
PROLOG September 1996
Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, doch für Sean King, den Agenten des Secret Service, war es der längste Sekundenbruchteil seines Lebens.
Sie befanden sich auf Wahlkampfreise und hatten in einem Nest Station gemacht, das so abgelegen war, dass man hätte glauben können, es sei nur über Satellitentelefon zu erreichen. Ein Nullachtfünfzehn-Hotel, ein kurzes Treffen mit lokalen Anhängern und Politgrößen. Sean musterte die Menge, während ihm sein Ohrstöpsel in unregelmäßigen Abständen unwichtige Informationen in den Gehörgang wisperte. Es war drückend schwül in dem großen Versammlungssaal, und es wimmelte nur so von aufgeregten Menschen, die mit »Wählt-Clyde-Ritter«-Plakaten herumfuchtelten. Immer wieder wurden dem unentwegt lächelnden Kandidaten Babys entgegengestreckt. King hasste das, weil sich hinter den kleinen Körpern problemlos Handfeuerwaffen verstecken ließen, bis es zu spät war. Doch ein Kind folgte auf das andere, und Clyde küsste sie alle. King, der das potenziell brandgefährliche Spektakel mit gespannter Aufmerksamkeit überwachte, hatte das Gefühl, in seinem Magen entstehe spontan ein akutes Geschwür.
Die Menge rückte näher, direkt an die Samtkordel, die als Absperrung diente und die Tabuzone markierte. King reagierte darauf, indem er ein Stück näher an Ritter heranrückte. Er streckte den Arm aus und legte seine Hand leicht auf den verschwitzten Hemdrücken, um den Kandidaten im Falle eines Falles sofort zu Boden reißen zu können. Dass er sich unmittelbar vor ihn stellte, war nicht gut möglich, schließlich gehörte der Kandidat dem Volk . Ritter verhielt sich immer gleich: Er schüttelte Hände, winkte, lächelte, sonderte rechtzeitig eine zitierbare Äußerung für die 18-Uhr-Nachrichten ab und spitzte auch schon wieder die Lippen, um das nächste dralle Baby zu küssen. Und die ganze Zeit über stand King schweigend dabei, die Hand auf dem schweißdurchtränkten Hemd, ließ die Menge nicht aus den Augen und hielt nach möglichen Gefahren Ausschau.
Weiter hinten im Saal ertönte ein Zwischenruf, den Ritter humorvoll parierte. Sein Witz kam an, die Leute lachten, oder doch wenigstens die meisten. Es gab allerdings auch einige unter den Besuchern, die Ritter und die Politik, die er vertrat, hassten. Gesichter lügen nicht, jedenfalls nicht für jene, die gelernt haben, sie zu lesen. King konnte Mienen ebenso gut lesen, wie er mit einer Pistole umgehen konnte. In seiner gesamten beruflichen Laufbahn hatte er kaum jemals etwas anderes getan, als die Herzen und Seelen von Männern und Frauen an ihren Augen und an ihrer Körpersprache abzulesen.
Zwei Männer waren ihm aufgefallen. Sie standen keine vier Meter von ihm entfernt auf der rechten Seite und sahen aus wie potenzielle Unruhestifter. Allerdings trugen sie beide kurzärmelige Hemden und enge Hosen, in denen sich keine Waffen verbergen ließen, sodass sie nicht ganz so hoch auf der Risikoskala einzuordnen waren. Attentäter zogen normalerweise unförmige, weite Kleidung und kleine Handfeuerwaffen vor. Dennoch murmelte King ein paar Worte in sein Mikrofon, um Kollegen auf seine Beobachtung aufmerksam zu machen. Dann glitt sein Blick kurz zu der großen Uhr an der rückwärtigen Wand des Versammlungssaals. Es war 10.32 Uhr. In wenigen Minuten würden sie bereits auf dem Weg ins nächste Städtchen sein, wo das Händegeschüttel, die genormten politischen Statements, das Abküssen von Babys und Mienenlesen wieder von vorne anfing.
Ein neues Geräusch, ein neuer Anblick erregte Kings Aufmerksamkeit, etwas vollkommen Unerwartetes, und er, der hinter dem wahlkämpfenden Ritter der Menge gegenüberstand, war der einzige Mensch im Raum, der es sehen konnte. Ein, zwei, drei Herzschläge lang – viel zu lange – konnte er seine Augen nicht davon lösen, aber wer wollte ihm daraus, dass er von diesem Anblick nicht loskam, einen Vorwurf machen?
Jeder, wie sich herausstellen sollte, einschließlich er selbst.
King hörte das Peng . Es klang wie ein zu Boden gefallenes Buch. Er spürte die Feuchtigkeit an seiner Hand, dort, wo sie Ritters Rücken berührt hatte. Nur handelte es sich jetzt nicht mehr nur um Schweiß. Ein stechender Schmerz durchzuckte seine Hand. Das Projektil hatte ihm an der Stelle, wo es aus dem Körper des Kandidaten ausgetreten war, ein Stück von seinem Mittelfinger abgerissen, bevor es in die Wand hinter ihm einschlug. Als Ritter umfiel, kam sich King vor wie ein
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