Schattennaechte
ab?«
»Ich passe auf ihre Kinder auf. Sie geht heute Abend mit ihrem Mann aus. Anne und Vince sind ein echt cooles Paar.«
Sie ritten auf den Hof und wurden von einem halben Dutzend Hunden in allen möglichen Größen, Formen und Farben begrüßt. Eine ganze Meute Jack Russell Terrier, Welsh Corgis und Australian Cattle Dogs, die laut bellend und schwanzwedelnd die Rückkehr der Reiterinnen verkündeten.
Die Ranch der Gracidas hatte etwas ganz Normales. Die schlichten, gepflegten Ställe befanden sich in zwei u-förmigen weiß gestrichenen Gebäuden um einen Hof mit einem Springbrunnen in der Mitte. Zum Hof hin waren sie offen. In einem der Ställe standen Marias Pferde und die der Kunden. Der andere Stall beherbergte die Poloponys von Felix.
Wendy saß ab und reichte mit einem strahlenden Lächeln einem Stallburschen die Zügel. Leah stieg von Jump Up und führte sie zum Striegeln, das sie selbst übernahm.
Von den beiden Schwestern wäre Leslie diejenige gewesen, die mit einem Lächeln die Zügel übergeben hätte. Ihr hatte immer alle Aufmerksamkeit gegolten. Sie hatte getanzt. Sie hatte gesungen. Sie hatte geschauspielert. Leslie war überall der Star gewesen. Sie konnte nicht einfach im Chor singen, sie musste die Solistin sein. Sie konnte nicht einfach eine Statistin in der Schulaufführung sein, sie musste die Hauptrolle haben. Reiten hatte Leslie nicht genügt, sie musste Polo spielen wie ihr Vater.
Leah machte es mehr Spaß, sich um die Pferde zu kümmern, und sie lernte Dressurreiten, einfach, um es zu können, und nicht, um andere damit zu beeindrucken. Sie war zufrieden damit, eine Chorstimme und eine Statistenrolle in der Theateraufführung zu übernehmen. Das machte das Leben ruhiger.
Sie nahm der Stute Sattel und Zaumzeug ab und legte es auf den Sattelbock, um es zu reinigen, dann nahm sie ihr die Gamaschen ab und warf sie in den Wäschekorb. Sie führte das Pferd zurück in den Stall, damit es trinken konnte, bevor sie es zum Waschplatz brachte.
Nach Feierabend war viel los auf dem Hof. Maria gab einer Schülerin im Dressurring Unterricht. Eine andere Kundin wärmte ihr Pferd auf der Bahn neben dem Polofeld auf. Felix und ein paar andere Spieler ritten gemächlich das Feld auf und ab und absolvierten ein leichtes Training mit den Ponys.
Leah mochte diese Zeit des Tages auf der Ranch, wenn die Sonne langsam hinter den roten Hügeln versank und die Hitze nachließ. In ein, zwei Stunden würde eine kühle Meeresbrise durch die Täler wehen. Dann wären die Leute alle wieder weg, die Pferde würden zur Ruhe kommen und zufrieden an ihrer abendlichen Ration Heu kauen.
Dann war es auf der Ranch richtig schön, wenn mehr Pferde als Menschen hier waren, aber ihre Mutter ließ sie nur selten so lange bleiben. Dass Leah überhaupt für die Gracidas arbeiten durfte, lag daran, dass immer jemand da war, der ein Auge auf sie hatte.
Nicht dass ihre Mutter Angst hatte, Leah könnte etwas anstellen. Sie hatte Angst, dass etwas mit ihr angestellt wurde. So wie mit Leslie damals.
Das war eines der vielen Dinge, die im Zusammenhang mit Leahs Verschwinden wirklich übel waren. Leah war deswegen zu einer Gefangenen geworden. Nirgends durfte sie allein hingehen. Sie durfte nicht allein mit dem Rad in die Stadt fahren – nicht mal die Straße, in der sie wohnten, durfte sie rauf- und runterfahren. Im Gegenteil, gerade das war ihr strengstens untersagt, weil die Old Mission Road ein bisschen abgelegen und von den Häusern aus nicht einzusehen war. Wenn jemand versuchen sollte, sie von ihrem Rad zu reißen, würde das vielleicht niemand mitbekommen.
Sie durfte aber auch nicht allein zu Hause bleiben, was mit fünfzehn – fast sechzehn Jahren – ziemlich peinlich war. Die meisten Mädchen in ihrem Alter besserten sich ihr Taschengeld mit Babysitten auf und hatten bei Gott keinen eigenen Babysitter mehr. Allerdings hatten die meisten Mädchen in ihrem Alter auch keine Schwester, die entführt worden war.
»Hey, Leah!«, rief Wendy.
Während sich Leah um Jump Up gekümmert hatte, war Wendy in die Umkleide gegangen und hatte ihre Reitkleidung gegen Khaki-Shorts und ein rotes Poloshirt mit aufgestelltem Kragen getauscht. Jetzt kam sie über den Hof, ein etwa achtjähriges dunkelhaariges Mädchen an der Hand, neben einer hübschen dunkelhaarigen Frau, die ein Kleinkind auf dem Arm trug.
Leah verriegelte die Stalltür und wischte sich die Hände an der Reithose ab.
»Das ist meine Freundin Anne«, sagte Wendy.
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