Schattennaechte
Wahnsinns, des Selbstmords.
Leslie war. Leslie ist. Für mich ist der Unterschied buchstäblich der zwischen Leben und Tod.
Leslie ist am Leben.
Leslie war meine Tochter.
Meine Tochter wird seit dem 28. Mai 1986 vermisst. Seither sind vier Jahre vergangen. Seither hat niemand etwas von ihr gesehen oder gehört. Ich weiß nicht, ob sie lebt oder tot ist, ob sie ist oder war.
Wenn ich mich für die Vergangenheitsform entscheide, dann gestehe ich damit ein, dass ich mein Kind für immer verloren habe. Wenn ich mich für die Gegenwartsform entscheide, dann unterwerfe ich mich den endlosen Qualen der Hoffnung.
Ich lebe in einem Zwischenreich. Das ist kein schöner Ort. Ich würde alles dafür geben, wenn ich ihn verlassen und das Leichentuch von meiner Seele ziehen könnte.
Ich sehne mich nach irgendeiner Form der Reinigung, einer Form der Katharsis, einer Neutralisierung des Giftes, das nach einer leidvollen Erfahrung zurückbleibt. Die Hoffnung auf Katharsis brachte mich auf die Idee, dieses Buch zu schreiben. Diese Idee – ein Gegenmittel für das Gift meiner Erinnerungen zu finden, wenn ich meine Erfahrungen der Welt mitteile – glich einer Rettungsleine, die man jemandem zuwirft, den ein stürmisches Meer wegzureißen droht.
Ich weiß allerdings, dass diese Rettungsleine niemals stark genug sein kann, um mich aus dem Strudel zu ziehen. Ich bin die Mutter eines vermissten Kindes.
Erschöpft schob Lauren die Tastatur zur Seite. Für die drei Seiten hatte sie sechs Stunden gebraucht, so als hätte sie jedes Wort einzeln aus dem schwarzen Teer ihrer Gefühle herausziehen müssen. Sie fühlte sich wie nach einem Marathonlauf, so als müsste sie den Schweiß und den Staub der Straße abduschen. Sie speicherte den Text auf einer Diskette und schaltete den Computer aus.
Vor etwas mehr als einem Monat war sie mit ihrer jüngeren Tochter Leah nach Oak Knoll gezogen. So lange hatte es gedauert, bis sie sich endlich an den Computer gesetzt hatte. Und immer noch war ein Teil von ihr in Panik geraten und hatte geschrien, es sei zu früh, sie sei noch nicht bereit. Jeder Tag ihres Lebens war ein ständiger innerer Kampf zwischen dem Bedürfnis, wieder zu leben, und der Angst davor, zwischen Selbstmitleid und Abscheu, dieses Mitleid zu brauchen.
Sie waren hierhergezogen, weil sie den Ort des Verbrechens verlassen und so eine innere und äußere Distanz dazu gewinnen wollte. Mit der Distanz würde vielleicht eine Perspektive auf die Zukunft verbunden sein. Dasselbe galt für ihr Schreiben über das Geschehen: Dass ihr das Erzählen ihrer Geschichte zu einer Perspektive verhelfen würde, und wenn schon nicht zu Frieden, dann wenigstens zu einer Art von – was? Ruhe? Gelassenheit? Ergebenheit? Keines dieser Worte passte so recht. Sie schienen alle zu viel zu versprechen.
Bump und Sissy Bristol – alte Freunde aus Santa Barbara – waren begeistert gewesen von ihren Plänen, sowohl was das Buch betraf als auch über den Ortswechsel, und hatten ihr ihren Zweitwohnsitz in Oak Knoll als Bleibe angeboten.
Die Bristols waren die Pateneltern ihrer Töchter und für Lance und Lauren so etwas wie ältere Geschwister. Bump spielte Jahr für Jahr den Weihnachtsmann für die Mädchen und war der Kotrainer ihrer Sportmannschaften. Sissy war die Modefee der Mädchen und ging mit dem größten Vergnügen mit ihnen zum Shoppen oder spendierte ihnen Besuche im Nagelstudio.
Bump hieß eigentlich Bob. Seinen Spitznamen hatte er seiner aggressiven Spielweise auf dem Polofeld zu verdanken – dort hatte er sich auch vor Jahrzehnten mit Lance angefreundet, trotz der zwölf Jahre Altersunterschied. Später, als Lauren und Lance beide verheiratet waren, hatten sich ihre Kreise auch beruflich überschnitten. Bump war im Finanzgeschäft tätig, Lance war Architekt. Sie hatten oft dieselben Klienten gehabt. Sissy betrieb ein Antiquitätengeschäft in der Lillie Avenue in Summerland, südlich von Montecito. Lauren arbeitete freiberuflich als Inneneinrichterin.
Lance hatte den Umbau des Refugiums der Bristols in Oak Knoll geplant. Lauren hatte sie wegen ihres Zweitwohnsitzes aufgezogen, als sie Sissy bei der Inneneinrichtung half. »Ihr lebt im Paradies. Braucht man einen Rückzugsort vom Paradies?«
Santa Barbara war eine wunderschöne Stadt, ein Postkartenidyll, auf der einen Seite der Pazifische Ozean, auf der anderen eine Bergkette. Auf der Straße oder in den schicken Restaurants begegneten einem auf Schritt und Tritt Stars, die im
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