Frag die Toten
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Eins
D as ist doch lächerlich«, sagte Marcia Taggart. »Du willst mir weismachen, diese Frau hier, die berührt irgendwas von Justins Sachen, und schon weiß sie, wo Justin ist? Sie kann so eine Art übersinnliche Verbindung zu ihm aufnehmen, indem sie eine der Action-Man-Figuren befingert, mit denen er als Kind gespielt hat, oder indem sie sein Kissen in den Arm nimmt? Für wie naiv hältst du mich eigentlich?«
»Marcia, ich flehe dich an«, sagte ihr Ehemann Dwayne, »irgendwas
musst
du unternehmen, wenn du schon nicht die Polizei einschalten willst. Wir müssen ihn finden. Dein Sohn liegt womöglich irgendwo in einem Graben.«
»Mit ziemlicher Sicherheit sogar. Und das weißt du so gut wie ich«, fuhr Marcia ihn an. »Er hat sich volllaufen lassen oder zugedröhnt oder bei irgendeiner Schlampe einquartiert, höchstwahrscheinlich alles zusammen. Wenn ich jedes Mal zur Polizei rennen würde, wenn er so was tut, bräuchten wir eine größere Einfahrt, damit die Streifenwagen Platz haben, die dann ständig bei uns rumstehen würden.«
Keisha Ceylon saß da, hörte zu, beobachtete. Sollten die beiden sich ruhig streiten. Sie hatte Zeit.
»Jetzt sind es schon drei Tage«, sagte Dwayne. »So lange war der Junge noch nie weg.«
»Genau das ist das Problem«, sagte Marcia und zeigte anklagend mit dem Finger auf ihren Mann. »Für dich ist er ein
Junge
. Aber er
ist
kein Junge mehr. Er ist zweiundzwanzig, und es ist höchste Zeit, dass er lernt, auf eigenen Füßen zu stehen, statt sich von seiner Mutter durchfüttern zu lassen. Warum, glaubst du, habe ich ihm den Geldhahn zugedreht? Genau deswegen: damit er lernt, Verantwortung zu übernehmen.«
»Ich sage ja nicht, dass du unrecht damit hast«, erwiderte Dwayne ruhig. »Ich weiß, was du seinetwegen schon alles durchgemacht hast. Ich weiß, es war schwierig, ihn nach Oscars Tod ganz allein aufzuziehen. Ich weiß, Justin muss sich am Riemen reißen. Er ist ein durchtriebener Mistkerl.«
Marcia warf ihm einen Blick zu, der sagte:
So kann ich ihn nennen, aber du bist nicht sein Vater, also pass auf, was du sagst.
»Entschuldige«, sagte Dwayne. Er hatte die unausgesprochene Botschaft laut und deutlich verstanden. »Aber ich sage ja nichts, was du nicht selbst schon gesagt hättest, Marcia. Er kann einen zur Verzweiflung bringen. Aber dass er kein Verantwortungsbewusstsein hat, heißt ja nicht, dass er jetzt nicht ernstlich in Schwierigkeiten steckt.« Er zeigte zum Fenster. Es schneite ganz leicht. »Es ist eiskalt. Angenommen, du hast recht. Angenommen, er hat sich volllaufen lassen oder zugedröhnt und ist irgendwo in einer Schneeverwehung gelandet. Ohnmächtig geworden. Erfroren. Würdest du dir das für deinen eigenen –«
»Natürlich nicht!«, rief sie. Ihre Unterlippe zitterte, ihre Augen glitzerten.
Na also
, dachte Keisha.
»O Gott«, sagte Marcia Taggart und schlug die Hände vors Gesicht. Sie ging zur Couch und setzte sich. Das Gesicht hielt sie bedeckt. Ihr Mann und Keisha sollten nicht sehen, dass sie um Fassung rang. Sie zupfte ein Papiertuch aus einem Spender auf dem Couchtisch, tupfte sich rasch die Augen ab und schnäuzte sich. Dann richtete sie sich kerzengerade auf. Selbstbeherrschung pur. Königliche Contenance.
»Also gut«, sagte sie.
Dwayne trat hinter seine Frau und legte ihr die Hände auf die Schultern. Er wirkte gehemmt. Als versuchte er, sie zu trösten, zuckte aber vor ihrer Kälte zurück.
»Angenommen, ich stimme zu«, sagte Marcia und wandte sich dabei der Hand auf ihrer linken Schulter zu, um klarzustellen, dass ihre Worte ihrem Ehemann galten und nicht ihrem Besuch, »warum in aller Welt sollten wir diese Frau um Hilfe bitten?«
Sie tat noch immer, als sei »diese Frau« Luft für sie. Keisha kannte den Typ. Ehe sie in die Branche eingestiegen war, in der sie momentan tätig war, früher, als sie noch putzen ging, um Geld zu verdienen – was sie auch jetzt noch tat, wenn am Ende des Geldes noch so viel Monat übrig war –, waren Kundinnen darunter gewesen, die sie wie ein Möbelstück behandelt hatten. Sie hatten ihr Zettel mit Arbeitsaufträgen hingelegt – »OBERSEITE der Deckenventilatoren abstauben, Edelstahlspüle trocken wischen« –, obwohl sie neben ihr standen und es ihr einfach hätten sagen können.
»Du willst ja nicht, dass ich die Polizei hole«, erinnerte sie Dwayne.
»Das hatten wir schon«, sagte sie barsch. »Es ist nur – du weißt doch, wie er ist … wozu der Junge fähig ist.« Sie
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