Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
Eins
2011
L ibby saß ganz hinten in der kleinen Dorfkirche und trauerte um den Mann, den sie zwölf Jahre lang geliebt hatte. In einer Trauergemeinde von beinahe achtzig Menschen bot ihr niemand eine warme Berührung oder ein mitfühlendes Lächeln an. Sie wussten nicht einmal, wer sie war. Und wenn doch, zeigten sie es nicht.
In mancher Hinsicht war es eine Erleichterung. Immerhin gab es keine Seitenblicke, kein Gemurmel, das hinter vorgehaltenen Händen von Lippen zu Ohren wanderte, keine kalten Schultern rechts und links von ihr in der Bank. Andererseits war es aber auch ein trauriger Beweis für die schmutzige Wahrheit. Niemand wusste, dass der Mann, von dem sie sich heute verabschiedeten – der Mann, dessen starken Körper und strahlende Lebenskraft man irgendwie in die schmale Kiste vorn am Altar gezwängt hatte –, für sie der wichtigste Mensch der Welt gewesen war. Mark Winterbourne, mit achtundfünfzig an einem Aneurysma gestorben. Betrauert von seiner Familie: von seiner Frau Emily und den beiden erwachsenen Töchtern.
Libby war sich nicht sicher, welche Regeln für eine heimliche Geliebte galten. Vermutlich musste diese in der hintersten Kirchenbank sitzen, während ihr Herz weh tat, als könnte es in tausend Stücke brechen, und gleichzeitig gegen den Impuls ankämpfen, aufzustehen und laut zu rufen: »Aber keiner von euch hat ihn so geliebt wie ich!«
An ihrem Geburtstag. Ihrem vierzigsten Geburtstag.
Wieder wischte Libby diskret die Tränen weg. In der Kirche war es kühl. Draußen lag noch Schnee. Sie zitterte in ihrem Blazer. Mark hätte nicht gefallen, was sie anhatte. Er hatte sie in Kostümen nie gemocht und gesagt, er verbringe schon genügend Zeit mit Leuten in Anzügen. Er mochte sie in Jeans, weiten Kleidern oder nackt. Als sie heute Morgen den Blazer angezogen hatte, um in der tadellos gekleideten Menge nicht aufzufallen, hatte sie sich daran erinnert, wie sie ihn das letzte Mal getragen hatte. Mark hatte gefragt: »Wo ist denn das Spitzen-Shirt, das ich so gerne mag? Zieh das doch an.« Der Gedanke, dass Mark sich nie wieder über den Blazer beschweren würde, hatte sie tief getroffen. Nie wieder würde Mark mit ihr sprechen. Nie wieder würden sich Fältchen um seine Augen kräuseln, wenn er leise lachte. Nie wieder würden seine Hände ihre umschließen, seine Lippen ihre fordern, sein Körper sich gegen ihren drücken …
Libbys Kopfhaut tat weh, weil sie sich so anspannte, um das Schluchzen zu unterdrücken. Es gehörte sich nicht, dass die unbekannte Frau in der letzten Bank zusammenbrach und ein Geheimnis preisgab, das sie so lange bewahrt hatte. Darin war Mark stets unerbittlich gewesen: Seine Frau und die Kinder durften niemals verletzt werden. Sie waren unschuldig und hatten diesen Schmerz nicht verdient. Mark und Libby mussten die ganze Last alleine tragen. Und was für eine furchtbare Last es gewesen war, was für ein erschöpfender Tanz aus hochfliegenden Hoffnungen und wahnsinniger Schuld die letzten zwölf Jahre gewesen waren.
Dann begann die erste Trauerrede, und Libby hörte eine Weile zu, bevor sie feststellte, dass diese Beschreibungen überhaupt nichts mit ihrem Mark zu tun hatten. Also schloss sie die Augen und dachte darüber nach, was sie sagen würde, wenn sie es dürfte.
Mark Winterbourne starb mit achtundfünfzig, aber Sie sollten nicht den Fehler begehen, ihn für einen typischen Mann mittleren Alters zu halten. Er war groß und gepflegt, mit vollem Haar und flachem Bauch und muskulösen Oberschenkeln, die von seiner gesunden Lebensweise und seiner Liebe für Langstreckenläufe zeugten. Er war klug und witzig und entschlossen. Er ließ sich von nichts aufhalten. Er hatte als Kind Krankheiten durchgestanden, mit seiner Dyslexie zu kämpfen gehabt und den Vater verloren, als er erst fünfzehn war. Wir hatten schöne Zeiten miteinander, auch wenn sie gestohlen waren und im Verborgenen stattfanden. Selbst nach zwölf Jahren war er immer noch atemberaubend. Er war großzügig, lieb und freundlich. So freundlich. Der freundlichste Mensch, den ich je gekannt habe. Heiße Tränen quollen unter ihren Augenlidern hervor und liefen über ihre Wangen. Sie öffnete die Augen und sah, dass Marks Frau in der ersten Bank mit gesenktem Kopf dasaß und in die Hände schluchzte. Der Vikar war die Stufen heruntergekommen und hatte den Arm um sie gelegt. Libbys Brust wurde eng, sie hatte ein schlechtes Gewissen. Sie hätte niemals herkommen dürfen.
Der Zug, mit dem sie
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