Schattennaechte
landete auch noch ein Laib Brot im Einkaufswagen.
Sie hatten vereinbart, jeden Tag gemeinsam zu Abend zu essen und in Ruhe miteinander zu reden. Mit ihren fast sechzehn Jahren war Leah über den Umzug nach Oak Knoll nicht gerade begeistert gewesen. Sie musste alle ihre Freunde zurücklassen und war wütend, weil sie fand, dass ihre Mutter keine Rücksicht auf sie nahm.
Lauren gefiel es jedoch nicht, dass ihre jüngere Tochter in Santa Barbara nur noch als die Schwester des entführten Mädchens betrachtet wurde. Sie wäre immer das überlebende Kind der Familie mit dem tragischen Schicksal. Das arme Mädchen. Wie schrecklich . Sie würde bei allem, was sie tat und erreichte, mit einem mitleidvollen Blick betrachtet werden.
Das waren die Gedanken, Gründe und Entschuldigungen, mit denen Lauren erklärte, warum sie ihre Tochter aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen hatte und mit ihr hierhergezogen war. Dass Leah in diesem Jahr sechzehn Jahre alt wurde – dasselbe Alter, in dem Leslie entführt worden war –, war auch ein Grund, den sie aber für sich behielt.
Irgendwo hatte sie gelesen, dass geisteskranke Verbrecher bestimmte Daten zelebrierten, zum Beispiel den Jahrestag eines Verbrechens. Der wichtige sechzehnte Geburtstag der Schwester des Opfers lag da doch nahe für den Mann, der Leslie entführt hatte. Darin musste ein perverser Reiz für ihn liegen.
Kannte er Leahs Geburtstag? Hatte er ihn nach der Entführung aus den Nachrichten erfahren, als die Familie im Zentrum des Medieninteresses stand? Leahs Alter war in den Zeitungen erwähnt worden. Die Journalisten füllten die Zeilen mit solchen Details.
Der in Santa Barbara ansässige Architekt Lance Lawton, 39, seine Frau Lauren, 38, die jüngere Tochter, 12 …
Natürlich hatte er die Berichte in Fernsehen und Presse verfolgt. Vier Jahre waren seit der Tat vergangen. Hatte er sie in dieser Zeit beobachtet? Lauren war überzeugt davon. Wusste er, dass sie nach Oak Knoll umgezogen waren? War er in diesem Moment vielleicht hier? In diesem Laden?
Er hatte Leslie verfolgt, ohne dass es jemand bemerkte. Er hatte sie entführt und war damit davongekommen. Er hatte die Familie nach der Entführung beobachtet. Niemand war imstande gewesen, es ihm nachzuweisen. Warum sollte er es nicht wieder tun?
Sie wussten, wer er war. Polizei, Sheriff – sie wussten mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit, dass er es war. Lauren wusste es. Sie war felsenfest überzeugt davon. Aber es gab keine Beweise. Sie hatten nichts in der Hand, nur Mutmaßungen und Ahnungen. Es war fast so, als hätte ein böser Zauberer ihre Tochter mit einer Handbewegung zum Verschwinden gebracht. Er lief frei herum, und keiner hinderte ihn daran. Lauren war diejenige, die in einem Gefängnis steckte.
Was, wenn er in ihr Leben zurückkehrte? Wenn er beschloss, sich als Nächstes Leah zu schnappen?
Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Das Gefühl, beobachtet zu werden, kroch ihr den Nacken hoch. Schnell drehte sie sich um.
Ein junger Verkäufer stapelte Kekspackungen zu einem Turm. Er sah sie an.
»Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?«
Lauren schluckte, fand ihre Stimme. »Nein. Danke.«
Am Ende des Gangs drehte sie sich noch einmal um und sah aus dem Augenwinkel einen Mann mit schulterlangen dunklen Haaren, der in den übernächsten Gang verschwand. Sie hielt den Atem an. Ihr Herz raste. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf wie Maschinengewehrfeuer, als sie in den nächsten Gang einbog und rasch zum nächsten Quergang lief.
Ist er es?
Was soll ich tun?
Soll ich schreien?
Werden mir Leute zu Hilfe kommen?
Was soll ich sagen?
Sie bog nach links und noch mal nach links und rammte mit voller Wucht seinen Einkaufswagen.
Der Mann machte einen Satz nach hinten und rief: »Hey, können Sie nicht aufpassen!«
Lauren starrte ihn sprachlos an.
Ein schmales Gesicht und dunkle Augen unter schweren Lidern.
Nein. Nein.
Der Mann, offensichtlich mexikanischer Abstammung, war kräftig und hatte ein kantiges Kinn. Er trug einen Schnauzbart. Seine Haare waren kurz.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte er und trat auf sie zu.
»Alles in Ordnung?«, fragte jemand anders.
Die Stimmen schienen vom Ende eines Tunnels zu kommen.
»Es tut mir leid. Es tut mir wirklich furchtbar leid.«
Auch ihre Stimme schien aus einem Tunnel zu kommen. Sie hielt sich mit feuchten Händen am Griff des Einkaufswagens fest, ihre Beine fühlten sich an wie Gummi.
»Ma’am, geht es Ihnen gut?«
Der Supermarktleiter trat zu
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