Schattenprinz
Atem ging in heftigen Stößen, und ihr Herz hämmerte wild.
Auf einer grasbewachsenen Lichtung kam die Prinzessin zu einem Halt. Auf der gegenüberliegenden Seite der Waldwiese stand ein weiblicher Vampir, gekleidet in schwarze Kniehosen und schwarze Seidenstrümpfe ohne Schuhe, barbusig unter einem dunklen Schwalbenschwanzrock mit goldenen Bändern, die die Schultern schmückten. Die Vampirin war groß und stattlich, aber blass und mit blauen Augen, wie alle ihrer Art. Sie trug ihr ebenholzschwarzes Haar in einem Zopf, der ihr lang über den Rücken fiel. Simon lag zu ihren Füßen, sein Entführer kniete daneben.
Die große Vampirin fauchte und streckte die wohlgeformten Hände aus. Die krallenartigen Nägel, von denen Adele wusste, dass Vampire sie ausfahren konnten wie Katzen, waren eingezogen, um ihren Mangel an Furcht zu demonstrieren. Sie lächelte und sagte mit einem rauen Zischen: »Prinzessin Adele.«
Adele war entsetzt, einen Vampir in ihrer Muttersprache sprechen zu hören und ganz besonders ihren eigenen Namen. Sie starrte den widerlichen Schmarotzer an, der einer schönen Frau so ähnlich sah.
Mit einem Mal hörte sie menschliche Stimmen. Zwei ihrer Weißgardisten rannten auf die Lichtung und an ihre Seite. Der Vampir, der Simon verschleppt hatte, griff bereits an. Beide Soldaten feuerten, und sein Körper explodierte.
Die große Vampirin mit dem langen schwarzen Zopf fletschte die Zähne und setzte sich in Bewegung. Wie aus dem Nichts schien die dunkle Kreatur vor den beiden Soldaten aufzutauchen, als sie hektisch mit den Verschlüssen ihrer Büchsen hantierten. Die beiden Männer lösten sich in einen Regen aus Eingeweiden und Knochen auf, ohne einen weiteren Schuss oder Laut abzugeben. Die Vampirin hielt kurz inne, um sich das warme Blut von den Händen zu lecken.
Adele hörte ein Geräusch unmittelbar über ihrer linken Schulter, wirbelte herum und erblickte eine blasse Gestalt ohne einen Hauch von Soldatenrot oder Matrosenweiß. Sie hieb durch ihr Ziel hindurch, spürte einen kurzen Widerstand an der Klinge und vollendete die Drehung, um sich der hochgewachsenen Vampirin zu stellen, den Säbel bereits wieder in Angriffsstellung. Der Kopf eines Vampirs rollte neben ihr über den Boden. Hinter ihr gab der Körper einen leisen, seufzenden Laut von sich, als er in den Schmutz sank.
Die Prinzessin verspürte weder Triumph noch Ekel – nur Pflichtgefühl und das Gewicht des Schwertes in ihren Händen. Sie war von Natur aus angriffslustig und strotzte vor Unnachgiebigkeit, wie man sie von einem jungen Mädchen nicht erwartete. Das hatte ihr schon immer zum Vorteil gereicht. Doch sie hatte es in den Verteidigungskünsten nie zur Meisterschaft gebracht und während ihrer Fechtkämpfe so manche Abreibung von ihrem Lehrmeister kassiert.
Sie griff die große Vampirin an, wobei sie sich in Gedanken bereits drei Hiebe zurechtlegte. Nur flüchtig nahm sie wahr, wie sich ihre Gegnerin gleichzeitig bewegte.
Adele sah aus dem Staub hoch. Ihre Hände lagen flach auf dem Boden. Der Säbel war verschwunden. Die Vampirin stand über ihr, inspizierte eine klaffende Bauchwunde und einen Schlitz in ihrem Brokatrock.
»Du hast mich verwundet«, sagte sie. »Seit hundert Jahren hat mich kein Mensch mehr verwundet.« Die Kreatur blieb ungerührt und zeigte weder Wut noch ein Verlangen nach Vergeltung. Dennoch beäugte sie Adele neugierig.
»Bitte«, hauchte Adele, »nimm mich, wenn du willst. Aber gib meinen Bruder frei. Er ist nur ein kleiner Junge.«
»Wir werden dich nehmen.« Die Vampirin schlenderte von Adele fort und betrachtete ihre Wunde dabei weiter mit der milden Verärgerung von jemandem, der einen Knopf an seinem Mantel verloren hat. »Aber er ist nicht nur ein kleiner Junge. Er ist der Thronerbe, wenn du fort bist.« Sie hob den Kopf und stieß einen durchdringenden Schrei aus wie das Kreischen eines rostigen Friedhofstors, ein Schrei, der durch die Landschaft zu schneiden schien.
Ein männlicher Vampir glitt zwischen den Bäumen hervor und griff nach Simon. Doch dann fiel plötzlich der Kopf der Kreatur von ihren Schultern. Ein gestiefelter Fuß stieß den enthaupteten Leichnam in den Schmutz.
Ein Mann stand über Simon. Er war groß und schlank, und sein Gesicht wurde von einem Kopftuch verhüllt, ähnlich wie es die Beduinen in der Wüste trugen. Eine Brille mit geschwärzten Gläsern verdeckte seine Augen. Seine Kleidung war dunkelgrau, beinahe schwarz: eine kurze, militärisch anmutende
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