Schattenturm
sechzehnjährigen Sohn Shaun hatte Anna nach dem letzten Fall darauf bestanden, dass Joe seinen Dienst quittierte; aber diesen Wunsch erfüllte er ihr nicht. Schließlich hatten sie sich auf ein Jahr unbezahlten Urlaub geeinigt – eine Art befristeten Ruhestand, der Joe Zeit genug verschaffte, sich darüber klar zu werden, ob er in die USA zurückging oder nicht.
Anna, die als freiberufliche Innenarchitektin arbeitete, hatte der Vogue Living den Vorschlag unterbreitet, ein altes Anwesen, das die Zeitschrift gekauft hatte, zu renovieren und die verschiedenen Stadien der Arbeiten in einer Fotoserie zu dokumentieren. Bei dem Anwesen handelte es sich um Shore’s Rock, mehrere alte Wohngebäude sowie ein verlassener, halb verfallener Leuchtturm am Rande der Klippen außerhalb von Mountcannon, dem Dorf, in das Anna sich schon als Siebzehnjährige verliebt hatte. In Mountcannon kannte man seine Nachbarn. Man schloss seinen Wagen nicht ab, und auf den Straßen war man sicher.
Als sie nach Irland gezogen waren, verstand Joe zwar Annas Gefühle, doch ihm fehlte das geschäftige, brodelnde New York. Zu seinem alten Partner Danny Markey hatte er gesagt: »Wenn zu Hause was Aufregendes passiert, ruf mich zwei Tage später an, damit ich weiß, worüber du sprichst.« Die New Yorker hatten ein romantisches Bild von Irland, doch wenn man neben einem verlassenen Leuchtturm in der Nähe eines kleinen Dorfes wohnte, bestand Irland nicht nur aus sentimentalen Balladen, und das Leben war alles andere als einfach. Verglichen mit New York, lebte man hier auf einem anderen Planeten.
Joe stand auf, warf ein paar Scheine auf die Theke und verabschiedete sich von den Männern am Tresen. Bis nach Hause brauchte er fünfzehn Minuten. Er freute sich immer, wenn er um die letzte Kurve bog und der in frischem Weiß gestrichene Leuchtturm aus der Dunkelheit hervortrat.
Joe stieß das Tor auf und lief die letzten hundert Meter bis zur Eingangstür.
Auf dem abschüssigen Grundstück stand Shore’s Rock – mehrere Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, die seit Jahrzehnten verlassen waren. Von den drei einzeln stehenden, zweistöckigen Häusern konnten zwei als Wohnhäuser genutzt werden. Das eine bestand aus einem Eingangsbereich, einer Küche, einem Wohnzimmer und einem Arbeitszimmer, die im Erdgeschoss lagen, sowie dem Schlafzimmer, einem Gästezimmer und einem Bad im ersten Stock. Das zweite, düstere Haus mit den schmalen Fenstern, das tiefer in die Klippen gebaut war, wirkte wie eine große Souterrainwohnung des anderen Hauses. Im Erdgeschoss befand sich Shauns Zimmer; darunter war ein Weinkeller. Das dritte Gebäude war der Leuchtturm selbst, der hinter dem Haupthaus stand. Von außen wirkte er ziemlich gut erhalten, doch das Innere stellte eine bauliche Herausforderung dar. Oberhalb der Häuser schließlich stand ein großer Schuppen, der in eine gut ausgestattete Werkstatt verwandelt worden war, in der Joe bereits einige der »rustikalen Hausmöbel« gezimmert hatte, wie Anna sie nannte.
Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, das Haus bis zum Ende des Jahres zu restaurieren, wohnlich zu gestalten und dabei möglichst viel von der Grundsubstanz zu erhalten. Zimmerleute, Maurer, Gärtner und andere Handwerker ließen sich in diesem Teil des Landes problemlos auftreiben. Doch Anna begriff schnell, dass sie es mit der zeitlichen Planung nicht so genau nehmen durfte wie in New York; in Irland tickten die Uhren langsamer. Und eine Erwähnung in der Vogue , die für einen New Yorker einen gewaltigen Anreiz darstellte, interessierte die Leute hier kaum. Dennoch hatten sie geholfen, innerhalb von nur sechs Monaten die feuchten, baufälligen Gebäude von innen und außen instand zu setzen.
Als die Familie Shore’s Rock zum ersten Mal zu Gesicht bekam, hatte es den Anschein gehabt, als hätte irgendeine Katastrophe die einstigen Bewohner gezwungen, die Häuser fluchtartig zu verlassen. Es stank nach Meer, Feuchtigkeit und verrottetem Holz. Joe und Shaun war der Fall hoffnungslos erschienen, doch für Anna war der alte Leuchtturm mit seinen Nebengebäuden das ideale Objekt, um ihre Träume zu verwirklichen.
Mittlerweile präsentierten sich der Leuchtturm und die anderen Gebäude in frischer Farbe. Im Haus war eine Fußbodenheizung installiert; Wände und Böden waren weiß gestrichen, und rustikale Möbel verliehen den Zimmern etwas Heimeliges.
Es war ein schmuckes Zuhause.
»Das volle irische Programm?«, fragte Joe. Nur mit einer Jeans bekleidet,
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