Schattenturm
später
»Halts Maul, du dämliches Arschloch. Wen interessieren deine beschissenen Vögel, Reiher-Dukey?«
Duke Rawlins lag bäuchlings auf der Pritsche in seiner kleinen Zelle, jeder Muskel seines drahtigen Körpers angespannt.
»Nenn mich nicht so.« Duke presste seine vollen, blassen Lippen zusammen. Er rieb sich über den Kopf und zerzauste sein schmutziges blondes Haar, das im Nacken lang gewachsen und über seinen kalten blauen Augen kurz geschnitten war.
»Wie dann?«, sagte Kane. » Geier -Dukey?«
Duke hasste Gesellschaft. Wenn er mit anderen zusammen war, verriet er oft Dinge, die niemanden etwas angingen. Er konnte es nicht fassen, dass Kane ihn so nannte, wie seine Mitschüler ihn vor Jahren genannt hatten.
»Du krankes Arschloch«, sagte Kane.
Duke sprang von der Pritsche. Als er den Arm unter dem Kissen hervorzog, hielt er ein scharfkantiges Stück Plexiglas in der Hand. Mit der Scherbe fuchtelte er vor Kanes Gesicht herum. Kane wich zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Wand. Duke hieb immer wieder mit der Scherbe zu und zerschnitt die Luft so nahe vor Kanes Gesicht, dass dieser schrille Schreie ausstieß.
»Willst du nach Carson City, Rawlins?«
Die peitschende Stimme des Gefängniswärters ließ Duke zusammenzucken. In Carson City befanden sich die Todeszellen des Staatsgefängnisses.
Der Wärter schloss die Tür auf, kam in die Zelle, streifte einen Latexhandschuh über, nahm Rawlins die Scherbe aus der Hand und trat zwei Schritte zurück. Seine Wachsamkeit hielt sich in Grenzen. Er wusste, dass Duke Rawlins zu clever war, sich so kurz vor seiner Entlassung noch etwas zu Schulden kommen zu lassen.
»Vielleicht interessiert dich das hier«, sagte der Wärter und hielt Rawlins einen Ausdruck der Website der New York Times vor die Nase.
Duke ging langsam auf den Aufseher zu und blieb wie angewurzelt stehen. Er blickte in Donald Riggs’ vernarbtes Gesicht.
KIDNAPPING ENDET MIT EXPLOSION
Mutter und Tochter tot
Kidnapper tödlich verwundet
Duke wurde blass. Er riss dem Wärter das Blatt aus der Hand.
Donnie! Nein, nicht Donnie!, schrie es in seinem Innern.
Die Knie wurden ihm weich, und er stürzte zu Boden. Ehe er die Besinnung verlor, ging ein Zucken durch seinen Körper. Dann übergab er sich und besudelte Schuhe und Hose des Wärters mit seinem Erbrochenen.
Kane lachte hämisch. »Reiher-Dukey macht schlapp. Mann, ist das ein schöner Anblick.«
»Kümmere dich um deinen eigenen Kram, Kane«, befahl der Wärter, ehe er der stinkenden Zelle den Rücken kehrte.
1. WATERFORD, IRLAND
Ein Jahr später
Das Danaher’s war die älteste Kneipe im Südosten – Steinboden, rustikales Holz, schummriges Licht. Die Balken unter der niedrigen Decke stammten von gestrandeten Schiffen und boten Stellflächen für verrostete Bierkrüge und alte grüne Fischernetze. Im großen Steinofen brannte ein Feuer. Die Toiletten wurden »Jacks« genannt; sie befanden sich draußen und waren kaum mehr als zwei Verschläge, einer davon ohne Tür. »Bis jetzt wurde noch keine Scheiße gestohlen«, pflegte der Kneipenbesitzer Ed Danaher zu sagen, wenn jemand sich beschwerte.
Joe Lucchesi musste sich an der Theke einem Verhör unterziehen.
»Hast du jemals ›Keine Bewegung, Hurensohn!‹ gesagt, so wie im Film?«, fragte Hugh, der seine Brille auf die Nase schob. Hugh war groß und schlaksig und stets darauf vorbereitet, den Kopf einzuziehen, falls er durch eine niedrige Tür musste. Sein schwarzes gekräuseltes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Mit seinen langen Fingern strich er ein paar lose Strähnen zurück.
Sein Freund Ray verdrehte die Augen.
»Oder hast du mal was gesagt oder getan, das bei Gericht gegen dich verwendet werden konnte?«, fragte Hugh.
Joe lachte.
»Oder Erdnussschalen in den Hosen von jemandem gefunden?«
»Idiot«, sagte Ray. »Du darfst es Hugh nicht übel nehmen, Joe. Aber mal im Ernst. Hast du jemals Beweise gefälscht?
«Alle lachten. Es war jedes Mal dasselbe. Joe hatte noch nie einen Abend in dieser Kneipe verbracht, ohne dass ihn jemand auf seinen alten Job in New York angesprochen hätte. Sogar seine Freunde löcherten ihn immer wieder mit Fragen.
»Ihr müsstet hier wirklich mal rauskommen«, sagte Joe.
»Ach, komm, in diesem Nest passiert doch nichts«, erwiderte Hugh.
Mountcannon war in der Tat ein kleines Nest, ein Fischerdorf. Dank seiner Frau Anna war Joe hier seit nunmehr sechs Monaten zu Hause. Besorgt um ihre Ehe und ihren gemeinsamen
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