Schattenwanderer
Kapitel 1
Nacht
Für Männer wie mich ist die Nacht die beste Zeit. Erst wenn rechtschaffene Menschen bereits selig in ihren warmen Betten schlummern und die letzten Bewohner Awendums durch die finstere Juninacht nach Hause eilen, verlasse ich das Haus. Die Nacht. Die Stille. Nur die Schritte der Stadtwache hallen mit dumpfem Echo von den Mauern der Häuser wider und werden durch die dunklen, bis zum Morgen ausgestorbenen Straßen getragen.
Die Wache bewegt sich schnell, hastig, beinahe hüpfend, und in den dunkelsten Gassen fällt sie in Trab. Die Soldaten haben Angst. Ich kann unsere kühnen Gesetzesdiener durchaus verstehen. Natürlich sind es nicht die Menschen, die ihnen Angst einjagen. Sollte tatsächlich ein Wahnsinniger die Frechheit besitzen, einen Angriff auf die Stadtwache zu wagen, so bekäme er es mit ihren schweren Hellebarden zu tun. Nein, die Soldaten fürchten sich vor etwas ganz anderem. In unseren unruhigen Zeiten gibt es nämlich weit gefährlichere Wesen, die sich des Nachts auf die Jagd begeben. Und Sagoth stehe ihnen bei, wenn diese Kreaturen hungrig sind.
Der Schatten bietet allen einen Unterschlupf, sowohl den friedlichen Bürgern, die in ihrer Angst vor gefährlichen Mitbürgern Schutz suchen, wie auch den Dieben, die in ihm lauern, das Messer unter dem Umhang verborgen haben und auf solide Bürger warten. Oder er gewährt ebenjenen Kreaturen Schutz, die in ihm leben und in den Nächten die einen wie die anderen jagen.
Glücklicherweise bin ich diesen Dämonen, die in der Stadt aufgetaucht sind, seit sich der Unaussprechliche und seine Helfershelfer nach Jahrhunderten der Ruhe wieder in den Öden Landen regen, bisher kein einziges Mal begegnet. Deshalb lebe ich wohl noch.
Die Schritte der Soldaten verebbten in der Nachbarstraße. Auf Befehl von Baron Frago Lonton, dem die Stadtwache von Awendum unterstand, waren alle Patrouillen verdreifacht worden. Denn das, was den Unaussprechlichen in den Öden Landen noch bannte, verlor an Kraft, und schon bald würde er aus der ewigen Eiswüste in unsere Welt einfallen. Der Krieg rückte näher, wie sehr der Orden der Magier und die unzähligen Priester ihm auch entgegenzuwirken suchten. So war es nur eine Frage der Zeit, ein halbes Jahr noch, vielleicht ein ganzes, bis geschehen würde, womit man uns in unserer Kindheit eingeschüchtert hatte. Der Unaussprechliche würde zu den Waffen rufen, hinter den Nadeln des Frosts auftauchen, der Albtraum beginnen … Selbst in der Hauptstadt traf man inzwischen seine immer frecher auftretenden Anhänger. Und ich war mir keineswegs sicher, dass die Wilden Herzen, diese tapferen Soldaten aus der Festung Einsamer Riese, eine Heerschar von Ogern und Riesen aufzuhalten vermochten.
Alles war still, und zwar so still, dass man hören konnte, wie die Falter mit ihren spröden Flügeln durch die nächtliche Kälte flatterten. Allmählich müsste ich meinen Gang fortsetzen, schließlich war die Wache längst weitergezogen. Aber heute neigte ich zu größerer Vorsicht als sonst … ein unerklärliches Gefühl zwang mich, an der Mauer eines im Schatten liegenden Gebäudes zu verharren.
Der Schatten ist mir wohlgesonnen, liebt mich, hilft mir. Ich verstecke mich in ihm, lebe darin, nur er ist stets bereit, mich aufzunehmen, vor Pfeilen zu retten, vor den Klingen, die in einer Mondnacht gierig aufblitzen, oder den blutdürstigen goldenen Augen der Dämonen. Bruder For, jener gute Priester Sagoths, hat einmal behauptet, der Schatten sei der Bruder des Dunkels. Und vom Dunkel sei es nicht weit bis zum Unaussprechlichen. Unfug! Als wären das nicht völlig verschiedene Dinge! Da könnte man ja gleich einen Oger und einen Riesen miteinander vergleichen! Schatten bedeutet Leben, Freiheit, Geld, Macht und Ehre. Garrett der Schatten wird wissen, wovon er spricht. Schatten entsteht nur, wenn es wenigstens einen Funken Licht gibt, insofern ist der Vergleich mit dem Dunkel dumm, wenn nicht noch mehr als dumm. Das habe ich meinem alten Lehrer natürlich nicht gesagt. Das Ei hat der Henne nichts beizubringen.
In der engen Gasse der Handwerker mit ihren Steinhäusern, die bereits die Stillen Zeiten gesehen hatten, ließ sich kein einziger Laut vernehmen, nur ein Blechschild über einer Bäckerei klapperte im Wind. Der träge dahinwogende, graugelbe Juninebel, für den unsere Hauptstadt berühmt war (angeblich der Trick eines halbgebildeten Magiers aus der Vergangenheit, gegen den selbst die Gesamtheit der Erzmagier nichts
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