Schau Dich Nicht Um
gestürzt. Sie grub ihre Zehen förmlich in den Boden und schaffte es, auf den Füßen zu bleiben. »Du hast sie getötet«, flüsterte sie.
»Sie wäre sowieso gestorben, Jess. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre sie in spätestens fünf Jahren an Krebs gestorben. Überleg doch
was ich ihr an Schmerzen, was ich euch allen an Qual erspart habe. Sie ist an einem wunderschönen sonnigen Tag gestorben, als sie über die Felsen zum See hinausblickte und sich zum erstenmal seit Monaten keine Sorgen um ihre Tochter machte. Ich weiß, es wird dir schwerfallen, das zu verstehen, Jess, aber sie war glücklich. Sie ist glücklich gestorben.«
Jess öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es dauerte Sekunden, ehe sie einen Laut hervorbringen konnte. »Was - hast du hinterher getan?«
»Ich habe sie beerdigt, wie es sich gehört«, antwortete er. »Draußen bei den Felsen. Du hast vor ein paar Wochen zu ihrem Grab hinausgesehen.«
Jess sah sich, wie sie in Dons Häuschen am hinteren Fenster gestanden und durch das Schneegestöber zu den Felsen des Steilufers hinausgeblickt hatte.
»Am liebsten hätte ich dir da schon die Wahrheit gesagt«, fuhr er fort. »Um dir endlich deine Seelenruhe wiederzugeben und dich wissen zu lassen, daß es für dich keinen Grund gibt, dich am Tod deiner Mutter schuldig zu fühlen. Eure Auseinandersetzung hatte mit ihrem Tod nichts zu tun. Ihr Tod stand schon in dem Moment fest, als sie das erstemal versuchte, sich in unsere Pläne einzumischen. Aber ich wußte, daß das noch nicht der richtige Moment war, dir das zu sagen.«
Jess erinnerte sich, wie Don sie in den Armen gehalten hatte. Sie erinnerte sich seiner Zärtlichkeiten und seiner Küsse, als sie sich vor dem offenen Kamin geliebt hatten. Sie erinnerte sich des falschen Trosts, den er ihr gegeben hatte. Den er ihr immer gegeben hatte. Hatte etwas tief in ihrem Unterbewußtsein das immer geargwöhnt? Das mußte es gewesen sein, was diese Panikanfälle all die Jahre über ihr hatten sagen wollen.
»Und mein Vater? Der war doch auch gegen unsere Heirat.«
»Dein Vater war ein Lamm. Ich wußte genau, daß ich mit ihm
keine Probleme haben würde, wenn deine Mutter erst aus dem Weg war.«
»Und die Waffe?« fragte Jess. »Was hast du mit der Waffe gemacht?«
Wieder lächelte Don, und sein Lächeln war beängstigender als Rick Fergusons je gewesen war. »Das war mein Abschiedsgeschenk an dich, als du gegangen bist.«
Jess drückte beide Hände auf ihren Magen. Sie starrte zu dem kleinen Revolver in Rick Fergusons ausgestreckter Hand hinunter. Diese Waffe hatte ihr Don zum Schutz mitgegeben, als sie sich von ihm getrennt hatte. Mit dieser Waffe hatte er ihre Mutter getötet.
»Mir gefiel die Ironie daran«, sagte Don, als kommentierte er eine rechtliche Feinheit und spräche nicht vom Mord an ihrer Mutter. Wann hatte er die Grenze zum Wahnsinn überschritten? Wie hatte sie so lange blind sein können?
Sie hatte mit dem Mörder ihrer Mutter geschlafen, um Himmels willen. War er wahnsinnig, oder war sie es? Ihr war so übel, daß sie glaubte, sie würde ohnmächtig werden.
»Jetzt verstehst du vielleicht, wie sehr ich dich liebe«, sagte er, »daß ich mir nie etwas mehr gewünscht habe, als für dich zu sorgen.«
Jess’ Kopf schwankte von einer Seite zur anderen, alles um sie herum verschwamm vor ihren Augen. Würde er auch sie töten? »Und jetzt?« fragte sie.
»Jetzt rufen wir die Polizei und melden, was geschehen ist. Daß Rick dir in deiner Wohnung aufgelauert hat und dich töten wollte; daß ich gerade noch rechtzeitig gekommen bin und ihn erschießen mußte, um dich zu retten.«
Jess schloß die Augen.
»Und dann ist alles vorbei«, fuhr Don in beruhigendem Ton fort. »Du kommst mit mir nach Hause. An den Platz, an den du gehörst. An den du immer gehört hast. Und wir können zusammensein. Wie es uns von Anfang an bestimmt war.«
Die Übelkeit überschwemmte Jess in einer riesigen Welle, riß sie von den Füßen, warf sie auf die Knie, trug sie ins offene Meer hinaus, drohte sie zu ertränken. Instinktiv suchte sie nach einem Halt, nach irgend etwas, das sie retten, das sie davor bewahren konnte, fortgeschwemmt zu werden, unterzugehen und zu ertrinken. Ihre Finger fanden einen Ast, umklammerten ihn, hielten ihn fest. Der Revolver. Das begriff sie, als sie ihre Finger um den Kolben legte und sich daran auf sicheren Boden zurückzog, hinaus aus der tödlichen Strömung. Mit einer einzigen schnellen Bewegung riß Jess die
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