Scherben: Du tötest mich nicht (German Edition)
mit dem sanften Kopfschmerz befriedigt, und sie glaubte nun nicht mehr, jeden Augenblick wie ein Ballon platzen zu müssen. Denn der Druck saß überall, hauptsächlich jedoch in der Brust und in ihrem Kopf. Aber jetzt war es besser. Benommen und etwas schwindelig taumelte Vanessa zum Spiegel über dem Waschbecken. Sie wollte sich einfach ansehen, sie musste sehen, was die Demütigung schon wieder mit ihr gemacht hatte.
Doch der Spiegel zeigte ihr nur wenig von dem, was sie sich vorgestellt hatte. Die Stelle an ihrer Stirn, die mit voller Wucht gegen die Wand geschlagen war, hatte sich rot ve rfärbt. Das war alles. Es würde nicht einmal eine Beule geben, und in einer Stunde war vermutlich nichts mehr von dem Beweis ihrer Demütigung übrig geblieben.
Kompensation.
Immer wieder ging Vanessa dieses Wort durch den Kopf, als sie den Blick im Spiegel sinken ließ. Doch ihr Gesicht war in ihrer Erinnerung hängen geblieben. Es war – besonders neben der Rötung an der Stirn – fahl und leblos. Im Kontrast zu ihren dunkelbraunen Haaren wirkte ihre Haut unnatürlich weiß, was daran lag, dass sie für gewöhnlich eine Blondine war. Dunkelblond zwar, aber nicht dunkel genug, um ihren Ansprüchen zu genügen. Mit nahezu schwarzen Haaren fühlte sie sich einfach mehr wie sie selbst.
Mehr wie sie selbst … wenn sie nur wüsste, was das bedeutete.
Vanessa lehnte sich weiter nach vorne, bis ihre Nasenspi tze beinahe das Spiegelglas berührte. Ihr Blick lastete nun wieder auf ihrem Gesicht. Ihre Poren waren fein, ihre Haut makellos, nur hin und wieder entdeckte sie einige dunklere Flecken, die ihr Gesicht sprenkelten. Sommersprossen. Es waren so wenige, dass man sie nur aus dieser Nähe bemerkte. Sie hatten die Farbe von Kupfer. Als hätten sie einen gewissen Wert.
Das war sie also? Ein bleiches Gesicht mit unsichtbaren Sommersprossen, u mrahmt von viel zu dunklem Haar? Erst jetzt sah sie sich selbst in die Augen. Sie waren grün, kräftig und doch etwas glasig. Das hatte die Demütigung mit ihnen gemacht. Unter den schweren Lidern wirkten ihre Augen kleiner als sie waren und verliehen ihr ein asiatisches Aussehen. Exotisch. Volle Lippen, kleine Nase, dominante Wangenknochen. Das sollte sie sein? Es traf sie immer wieder wie ein Schlag, wenn sie in den Spiegel blickte, weil die Frau, die ihr daraus entgegen starrte, nichts mit dem zutun hatte, wer sie war . Und was Demütigung mit ihr machte.
Vanessa hatte sich geschworen, niemals wieder in diese Sit uation zu kommen, sich nicht noch einmal bloßstellen zu lassen – nicht nach diesem einen Erlebnis. Damals. Als wäre es eine Ewigkeit her und doch war es ganz nah.
Kompensation.
Immer wieder dieses Wort, als würde es eine größere Macht über sie haben als die Realität. Oder als ihre Umgebung. Und das hatte es. Es hatte eine Anziehung und eine Dominanz, der sie sich nicht entziehen konnte. Es war immer da, selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst war. Es lauerte in den dunklen Tiefen ihres Unterbewusstseins und wartete nur darauf, endlich ausbrechen zu dürfen und alles an sich zu reißen. Als wäre es der einzige Grund, für den sie noch lebte. Es hatte schon einmal geholfen, damit sie sich besser fühlte, und das Zeugnis dessen würde sie ein Leben lag begleiten. Ein bleibender Beweis.
Vanessa hasste es nur, dass sie es selbst machen musste. Sie trat einen Schritt von ihrem Spiegelbild zurück und mied j eden weiteren Blickkontakt mit sich selbst. Sie wollte nicht von ihren eigenen angewiderten Augen gedemütigt werden.
Der Schmerz in ihrer Stirn hatte bereits nachgelassen und mit ihm verflüchtigte sich auch ihre Selbstbeherrschung. Mit i hrer zitternden Hand griff sie gedankenlos nach einem Wasserglas am Waschbeckenrand, das jemand dort vergessen hatte, und ließ es auf die weiße Oberfläche des Waschbeckens fallen. Ein lautes Klirren, wie ein schriller Schrei, aber nicht erschreckend genug, um Vanessa wachzurütteln. Ein Duzend Scherben ergoss sich in der Spüle, und jede einzelne schien Vanessa anzugrinsen, als wären sie die besten Freunde und größten Feinde zugleich.
Hastig griff sie nach einer Scherbe, vollkommen gleichgültig, welche es war, ob groß oder klein, sie bekam es nicht mit. Ihren linken Arm ausgestreckt schloss Vanessa die Augen und presste die Lippen aufeinander. Die kräftigen Hiebe ihrer Hand kamen von ganz alleine. Mit der scharfen Seite der Scherbe schlug sie gegen ihren nackten Unterarm. Immer wieder rammte sie die scharfe Kante
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