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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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natürlich war es auch eine Frage der Würde. Trotzdem hob sich meine Hand, ein Schokolade-Vanille-Eis wechselte den Besitzer, und es war so schnell auf meiner Zunge und glitt meine Kehle hinunter, dass ich rot wurde. Ich stand da und starrte diesen Mann aus dem Kosovo mit seinen knorrigen Stuhlbeinarmen an, nuschelte schuldbewusst ein kraftloses Dankeschön – eher aus Gewohnheit, denn wenn ich überhaupt dankbar war, so doch mit gemischten Gefühlen – und ging davon.
    Von da an machte ich einen großen Bogen um den Eisladen, aus Scham. Wenn ich daran vorbeimusste, lief ich auf gleicher Höhe und im selben Tempo neben einem erwachsenen Passanten, hielt den Blick starr geradeaus gerichtet und rang mit meinem Unbehagen.
    Das geschenkte Eis bekam mir nicht. Am Ende saß ich spuckend unter einer Treppe.
Mit zwölf Jahren
    In der Grundschule mochte ich Mathematik. Mir gefiel daran, dass es für ein Problem immer nur eine Lösung gab, dass nichts vage war und man nicht erst interpretieren musste, wie der Autor dieses oder jenes gemeint hatte. In den ersten vier Jahren hatte ich den absoluten Durchblick.
    Erst später, als die Mathematik abstrakter wurde, schwerer nachzuvollziehen war und man sich Formeln merken und Koordinatensysteme und so weiter zeichnen musste, entwickelte ich eine Animosität gegen das Fach. Plötzlich gab es für ein Problem mehr als nur eine Lösung, und ich verlor meinen Halt in der Wirklichkeit, so wie ich sie wahrnahm. Ich erinnere mich, wie sehr mich die Vorstellung beschäftigte, dass eine gerade Linie unendlich sein kann und niemals eine andere gerade Linie berührt, die parallel dazu verläuft, und dass eine gerade Linie von der Seite betrachtet einfach nur ein Punkt ist, was sich meiner Meinung nach nicht beweisen ließ, da diese Linie direkt durchs Auge und ins Gehirn führen müsste und man somit erblinden und sterben würde. Tragischerweise äußerte ich diesen Gedanken im Unterricht, und der Genosse Lehrer dachte, ich wolle witzig sein, und ließ mich stundenlang mit dem Gesicht zur Wand in der Ecke stehen. Meine Klassenkameraden machten sich über die Größe meines Hinterns lustig, während ich mir vorstellte, wie ich mich in einen Staubpartikel verwandelte und durch die Ritze unter der Tür davonschwebte.
    Vor allem aber ereignete sich dieser Gemütswandel, als sie in mein Leben trat: Genossin Lehrerin Radmila. Sie war eine mollige Brünette Mitte vierzig, mit angenehmen Gesichtszügen und hübsch manikürten Fingernägeln, aber mit einer Art Geschwür auf der Wange, das ihr nicht erlaubte, mit mehr als einer Hälfte ihres Mundes zu lächeln, was wiederum kalt und halbherzig wirkte. Sie war zu solch erstaunlicherGnadenlosigkeit fähig, dass ich mir zwanzig Minuten nach Unterrichtsbeginn in die Hose machte, weil sie mich nicht zur Toilette gehen ließ, denn dafür gebe es schließlich die Pausen zwischen den Stunden. Ich saß in meiner lauwarmen, feuchten Hose da, umgeben von einer stechend riechenden Wolke, und dachte an Comichelden.
    Ich machte keine Hausaufgaben mehr. Ich glaubte, es nicht zu kapieren. Ich simulierte Krankheiten, um dem Unterricht zu entgehen. Ich betete, nicht dranzukommen. Ich schrieb bei anderen Schülern ab.
    Im dritten Trimester hatte ich jede Menge schlechte Noten angesammelt, dann wurde ich bei einer Klassenarbeit beim Schummeln erwischt (auf der Unterseite meines Lineals klebten kleine Zettelchen mit Formeln) und ins Büro des Direktors geschickt. Der Direktor – den wir Gockel nannten, weil ein ledriger Hautlappen von seinem Kinn hing und dieses mit seinem Schlüsselbeinknochen verband – riss mir den Arsch auf und gab mir eine zweite Chance. Wenn ich bei der Abschlussprüfung gut abschnitt, würde er über mein ungebührliches Verhalten hinwegsehen.
    Auf keinen Fall konnte ich anderthalb Unterrichtsjahre Mathematik in zweieinhalb Wochen pauken. Ich redete mir ein, dass ich es zumindest probierte. Stattdessen verwandte ich meine Energie hauptsächlich darauf, mir eine ausgeklügelte Ausrede einfallen zu lassen, die mich vor der Abschlussprüfung bewahrte. Ich stellte mir vor, von einem Auto überfahren zu werden und zwischen Leben und Tod zu schweben. Ich betete für eine ansteckende Krankheit.
    Dann stellte sich heraus, dass meine Mutter mit ihrer Schwesterngruppe zu einem Symposium über den Kampf gegen den Alkoholismus irgendwo in Mazedonien fuhr und bei meiner Abschlussprüfung nicht da sein würde. Ich begriff, dass ich mit meinem

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