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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Frühsommer aus der Patsche geholfen hatte.
    »Hi, Ellie«, sagte er, um dann, ohne mich anzusehen, an mir vorbeizulaufen. Er grüßte mich; ich konnte ihm nicht vorwerfen, dass er mich ignorierte. Aber meine Versuche, mit ihm über das zu reden, was uns beide verband - ein Rendezvous mit Tessa -, scheiterten allesamt kläglich. Er blockte ab. Warum, wusste ich nicht. Und als nach Colins Flucht einige Wochen verstrichen waren, wurde mir auch bewusst, dass Tillmann und ich uns eigentlich nicht kannten. Wir hatten extreme Situationen zusammen durchgestanden. Trotzdem genügte es nicht, um von Freundschaft zu sprechen. Das war genau das, was er mir jetzt demonstrierte: Wir waren nur flüchtige Bekannte. Mehr nicht.
    Seit dem neuen Jahr wusste ich nicht einmal, wo er abgeblieben war. Herrn Schütz, der sich als Tillmanns Vater entpuppt hatte, wagte ich nicht zu fragen. Irgendwie fand ich es peinlich, meinen Biologielehrer nach seinem Sohn auszuquetschen. Außerdem hatten die beiden ohnehin kaum Kontakt. Womöglich riss ich damit nur alte Wunden auf.
    Nein, es gab keine Beweise - bis auf zwei Zettelchen und die beiden Briefe, die Colin mir geschrieben hatte. Vier Stücke Papier, die ich kurz nach seinem Verschwinden in eine kleine metallene Kiste gepackt hatte. Die Kiste hatte ich auf meinen Kleiderschrank gestellt und weit nach hinten geschoben - so weit, dass ich sie nicht sehen konnte. Denn ich war mir sicher gewesen, es nicht ertragen zu können, seine Zeilen zu lesen. Ich wollte abwarten, bis sich mein Herz nicht mehr ganz so verwundet fühlte und all die Risse und Schnitte zu heilen begannen. Doch sie heilten nicht. Sie vernarbten nur und es reichte eine Erschütterung meiner Seele, um sie aufbrechen und von Neuem bluten zu lassen.
    Und jetzt - jetzt hatte ich die Befürchtung, dass es gar keine Kiste auf meinem Schrank gab. Dass diese Briefe nur ein weiteres Bewusstseinsirrlichtern meines halluzinatorischen Sommers gewesen waren.
    Ein offenes, ehrliches Gespräch mit meiner Mutter würde möglicherweise zu den besten Beweisen führen, die ich überhaupt finden konnte. Denn Mama bildete sich nichts ein. Das wusste ich genau. Trotzdem wollte ich es nicht, denn es gab zwei Erklärungsvarianten, von denen die eine so wahrscheinlich war wie die andere: Entweder erfuhr ich bei unserem Gespräch, dass es Colin nicht gegeben hatte, jedenfalls nicht als Cambion, sondern als Psychopathen, dass Tessa ein Albtraum gewesen und ich auf dem besten Wege war, meinen Verstand zu verlieren. Die andere Variante machte mir jedoch auch keinen Mut. Sie bedeutete, dass dieses ganze Mahrgedöns die Wahrheit war, Tessa existierte und Papa ihretwegen verschwunden war. Nein, nicht ihretwegen. Sondern meinetwegen. Weil ich mich gegen meine Eltern gewandt hatte, um Colin trotz ihrer Verbote immer wieder zu sehen und damit Tessa anzulocken - woraufhin Papa sich genötigt gesehen hatte, sie zu verraten. Er hatte Colin gesagt, dass sie sich auf den Weg gemacht hatte.
    Ich und niemand anderes als ich hatte das alles angerichtet. Den Gedanken an diese Schuld ertrug ich genauso wenig wie die Vorstellung, dass mein Sommer mit Colin ein Hirngespinst war. Selbst meine Liebe zu ihm war kein Beweis. Ich war auch in Grischa verliebt gewesen, dabei hatte es ihn nicht gegeben. Es hatte einen Jungen mit seinem Namen gegeben, der auf meine Schule ging - das ja. Doch er hatte nichts oder nicht viel mit dem Jungen gemein, der in meinen Tag- und Nachtträumereien aufgetaucht war. Dennoch hatte ich ihn geliebt. Ich traute mir durchaus zu, mich ein weiteres Mal in ein Hirngespinst verliebt zu haben. Dafür hatte ich offenbar Talent.
    »Gut, du willst nicht reden. Aber ich werde etwas unternehmen«, riss mich Mamas ruhige Stimme aus meinen selbstzerfleischenden Grübeleien.
    »Was willst du denn bitte unternehmen?«, fauchte ich sie an.
    »Ehrlich gesagt ist mir das reichlich egal. Hauptsache, ich sitze nicht länger untätig herum. Das habe ich an der ganzen Sache immer am meisten gehasst und ich hasse es immer noch. Ich werde morgen die Polizei informieren.«
    »Die Polizei...« Ich lachte trocken auf. Aufreizend langsam drehte ich mich zu Mama um. Sie saß hellwach und mit durchgedrücktem Kreuz auf meiner Bettkante und musterte mich aufmerksam. Ihre weichen grünbraunen Mandelaugen schimmerten schwach im Halbdunkel. Sie sah ausgeruht aus. Ich hatte sie nie zuvor so ausgeruht gesehen und aus einem jähen Impuls heraus wollte ich sie dafür anklagen. Dafür, dass

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