Scherbenparadies
Hartz-IV-Empfängern wohnten einige Gestalten im Haus, denen sie lieber nicht über den Weg lief. Dem Alki aus dem sechsten Stock beispielsweise, der oft grundlos ausrastete und dann Leute beschimpfte und bespuckte; dem Gangsta, dessen Familie beinahe die ganze neunte Etage mit Beschlag belegte und der sich wie ein Supermacho aufführte, und dem Kerl, der aussah wie ein Junkie und hundertpro seine Freundin schlug, so wie die immer rumlief.
Der Lift fuhr rumpelnd bis ins fünfte Stockwerk. In den Gängen flackerte das Licht.
Sandra betrat mit Vanessa im Schlepptau den Flur, der zu ihrer Wohnung führte, und zog den Schlüsselbund aus der Hosentasche. Im Appartement gegenüber, wo das Punkerpärchen wohnte, bellten die Hunde. Vor denen hatte Sandra richtig Angst. Zwei schwarze Doggen, die Vanessa überragten.
»Ich hab Hunger. Was gibt´s zu essen?« Vanessa schlüpfte aus ihrer Jacke und hängte sie neben Sandras Jeansjacke an die Garderobe.
»Mal schauen, was da ist.« Milch und Eier waren noch im Kühlschrank. Ansonsten war er leer. Im Gefrierfach, das Laura bisher mehr oder weniger regelmäßig mit Tiefkühlzeug aufgefüllt hatte, herrschte gähnende Leere, seit sie vorgestern die letzte Pizza gegessen hatten. Im Küchenschrank fand Sandra noch eine Packung Mehl. Was konnte man damit machen? Sie hatte keine Ahnung. Laura kochte so gut wie nie. Sie besaß nicht einmal ein Kochbuch. Sandras Magen knurrte und Vanessa quengelte schon wieder, sie habe Hunger.
Inmitten des Chaos aus Klamotten, Schuhen, Zeitschriften, Kosmetikartikeln und wer weiß, was sich noch alles in diesem Durcheinander in Lauras Schlafzimmer verbarg, stand der PC. Sandra warf schmutzige Wäsche vom Stuhl auf den Boden, setzte sich, startete den Rechner und googelte Eier+Milch+Mehl. Auf einer Kochwebsite fand sie ein Rezept für Pfannkuchen. Klang einfach. Das bekam sie sicher hin.
»Wir machen Pfannkuchen«, rief sie in die Küche, wo Vanessa noch immer jammerte, dass sie so hungrig sei. »Mein Bauch fühlt sich ganz hohl an.« Meiner auch, dachte Sandra. Seit Laura immer häufiger bei ihrem neuen Freund übernachtete und immer seltener nach Hause kam, wurde das langsam von der Ausnahme zur Regel. So konnte es nicht weitergehen.
»Du darfst rühren.« Sandra ging mit dem ausgedruckten Rezept in die Küche. Fünf Minuten später war der Teig fertig. Sie nahm die Pfanne aus dem Schrank und kippte etwas Öl hinein, denn die Butter, die man laut Rezept verwenden sollte, war alle. Kurz darauf zog ein köstlicher Geruch durch die Wohnung. Die Teigmenge reichte für vier Pfannkuchen. Vanessa bestrich ihre dick mit Nutella, bis das ohnehin nicht mehr volle Glas fast geleert war. Sandra aß ihre beiden Pfannkuchen mit Erdbeermarmelade und räumte dann die Küche auf. Allerdings konnte sie das Geschirr nicht spülen, da schon seit Tagen das Spülmittel alle war. Gut, dann musste das eben warten, bis sie einkaufen gehen konnte. Sie türmte Teller, Gläser, Rührschüssel und Pfanne auf den bereits vorhandenen Stapel schmutzigen Geschirrs.
Höchste Zeit, dass Laura sich mal wieder blicken ließ. Beinahe zwei Wochen waren vergangen, seit sie das letzte Mal zu Hause gewesen war und zwanzig Euro auf dem Küchentisch hinterlassen hatte.
3
Nach dem Essen machte Sandra mit Vanessa Hausaufgaben. Eifrig krampfte ihre kleine Schwester die Finger um den Bleistift. Zeile um Zeile schrieb sie Druckbuchstaben auf das Arbeitsblatt. Als sie damit fertig war, musste sie noch ein Bild malen. Ihr Lieblingstier. Während Vanessa zeichnete, versuchte Sandra, an ihrem Referat zu arbeiten. Das eilte zwar nicht, sie war aber mit der Lektüre von Theodor Storms Schimmelreiter noch nicht durch und auch Sekundärliteratur hatte sie keine. In diesem Fall musste ihr das Internet genügen. Denn Geld für Bücher hatte sie ebenso wenig wie für einen Latte bei Starbucks.
Das Referat war wichtig und Deutsch ihr Lieblingsfach. Nicht mit Glück hatte sie es nach der Fünften, im zweiten Anlauf, endlich auf die Realschule geschafft, sondern mit eisernem Willen und Fleiß. Vielleicht gelang ihr ein Einserreferat und damit eine gute Grundlage für die Prüfungen im Mai, die sie nicht irgendwie, sondern bestmöglich bestehen wollte. Denn sie wollte hier raus und das ging nur mit einem guten Schulabschluss. Er sollte das Sprungbrett in ein anderes, ein besseres Leben werden. Ein Leben mit Berufsausbildung, einer schönen Wohnung in Haidhausen oder im Glockenbachviertel; ein Leben mit
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