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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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eines Zoos gelten hingegen andere Regeln, denn wenn man Fäkalien im Gehege eines Tieres liegen lässt, ermuntert man es geradezu, diese zu fressen und sich damit zu infizieren; Tiere verschlingen alles, was auch nur entfernt nach Nahrung aussieht. Deshalb werden die Gehege ständig gereinigt, aus Sorge um die Gesundheit ihrer Bewohner, nicht aus Rücksicht auf Augen und Nasen der Besucher. Aber nicht um den hohen zoohygienischen Standard der Familie Patel zu halten, räumte ich bei Richard Parker auf. Nach wenigen Wochen litt er ohnehin so sehr an Verstopfung, dass sein Darm sich nur noch einmal im Monat entleerte, und meine riskante Pflegerarbeit wäre aus Gesundheitsgründen nicht notwendig gewesen. Es steckte etwas anderes dahinter: Als Richard Parker sich das erste Mal im Rettungsboot Erleichterung verschafft hatte, war mir aufgefallen, dass er versuchte, den Haufen zu verscharren. Die Bedeutung dieser Geste war mir nicht verborgen geblieben. Den Kot offen liegen zu lassen, sodass jeder ihn roch, wäre ein Zeichen der Dominanz gewesen. Ihn zu verscharren oder es zumindest zu versuchen, bedeutete Unterwerfung - er unterwarf sich
mir
.
    Dass es ihn nervös machte, war nicht zu übersehen. Er stand geduckt, den Kopf eingezogen, die Ohren flach angelegt, und stieß ein leises langgezogenes Knurren aus. Ich ging energisch und zielstrebig zu Werke, nicht nur um mein Leben zu schützen, sondern auch, damit ich ihm möglichst schnell das erforderliche Signal gab. Dieses Signal bestand darin, dass ich den Kot in die Hand nahm, ihn einige Sekunden lang hin- und herrollte, ihn mir unter die Nase hielt und hörbar daran schnüffelte, und dabei starrte ich den Tiger ein paar Mal theatralisch an, die Augen weit aufgerissen (vor Furcht, aber das durfte er nicht merken), und das lang genug, dass es ihn ordentlich einschüchterte, aber nicht so lang, dass er sich auf mich stürzte. Und jedes Mal, wenn ich ihn so ansah, blies ich leise drohend auf meiner Pfeife. Indem ich ihm derart mit den Augen zusetzte (denn natürlich ist bei allen Tieren, uns Menschen eingeschlossen, das Anstarren ein Akt der Aggression) und indem ich jenen Pfeifton produzierte, mit dem er in Gedanken so unangenehme Gefühle verband, machte ich Richard Parker klar, dass es mein Recht war, mein Recht als Souverän, seinen Kot in die Hand zu nehmen und daran zu schnüffeln, wenn mir danach war. Nicht die Sorge des Zoowärters trieb mich also an, sondern angewandte Psychologie. Und es funktionierte. Richard Parker starrte nie zurück; er hielt den Blick stets in mittlerer Entfernung, nicht auf mich gerichtet, aber auch nicht von mir abgewandt. Es war etwas, das ich spüren konnte, so wie ich die Kugel in meiner Hand spürte: So entstand Macht. Nach der Anspannung dieser Übung war ich stets schwer erschöpft, aber glücklich.
    Wo wir schon bei dem Thema sind: Ich war bald genauso verstopft wie Richard Parker. Das lag an unserer Ernährung, zu wenig Wasser, zu viel Protein. Auch bei mir kam die Entleerung des Darms nur noch einmal im Monat, und eine Erleichterung war es nicht. Es war ein langer, mühsamer und schmerzlicher Kampf, an dessen Ende ich schweißgebadet und bis zur Hilflosigkeit ermattet dalag, eine Tortur, die schlimmer war als das höchste Fieber.

Kapitel 77
    Als die Päckchen mit den Notrationen zusehends schwanden, aß ich immer weniger, bis ich schließlich genau den Anweisungen folgte und nur noch alle acht Stunden zwei Zwiebacke zu mir nahm. Ich war ständig hungrig. Ich dachte nur noch an Nahrung. Je weniger ich zu essen hatte, desto größer wurden die Portionen, von denen ich träumte. Die Mahlzeiten meiner Phantasie waren so groß wie ganz Indien. Ströme von roter Linsensuppe so mächtig wie der Ganges. Chappatis so groß wie Rajasthan. Reisschüsseln so riesig wie Uttar Pradesh. Sambars, die ganz Tamil Nadu überflutet hätten. Berge von Eiscreme so hoch wie der Himalaja. In meinen Träumen war ich ein wahrer Meisterkoch: Alle Zutaten waren stets frisch und in Hülle und Fülle vorhanden, Backofen oder Bratpfanne hatten immer genau die richtige Temperatur, alles war sorgsam aufeinander abgestimmt, nichts war je angebrannt oder noch halbroh, nichts zu heiß oder zu kalt. Jede Mahlzeit war einfach perfekt - zum Greifen nah und doch unerreichbar für mich.
    Im Laufe der Zeit entdeckte ich immer neue Nahrungsquellen. Anfangs hatte ich die Fische noch ausgenommen und ihnen sorgsam die Haut abgezogen, doch bald streifte ich nur noch den

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