Schiffbruch Mit Tiger
Tränen aus. Gleich am folgenden Tag schickte ich eine Spende an die Gideon-Gesellschaft, zusammen mit einem Brief, in dem ich sie anspornte, ihre Aktivitäten auf Orte aller Art auszudehnen, an denen ein erschöpfter Reisender sein müdes Haupt betten mochte, nicht nur Hotelzimmer, und dort nicht nur Bibeln bereitzulegen, sondern auch andere heilige Schriften. Ich kann mir gar keinen besseren Weg zur Verbreitung des Glaubens vorstellen. Kein Wettern von der Kanzel, kein kirchliches Strafgericht, kein Druck der Gemeinschaft, nur ein heiliges Buch, das geduldig wartet, bis es den Wanderer willkommen heißt, sanft und bewegend, als habe ein kleines Mädchen ihn auf die Wange geküsst.
Wenn ich wenigstens einen guten Roman gehabt hätte! Aber mir blieb nur das Überlebenshandbuch, und das habe ich in der Zeit meines Schiffbruchs wohl zehntausendmal gelesen.
Ich führte Tagebuch. Es ist schwer zu entziffern. Ich schrieb so klein wie möglich. Ich hatte Angst, das Papier würde nicht reichen. Viel ist es nicht. Gekritzelte Worte, die versuchten, eine Wirklichkeit in Worte zu fassen, die mich überwältigte. Ich begann mit dem Schreiben etwa eine Woche nach dem Untergang der
Tsimtsum.
Davor war ich zu beschäftigt und durcheinander. Die Einträge sind nicht datiert oder nummeriert. Was mir heute auffällt, ist die Art, wie sie das Vergehen der Zeit festhalten. Mehrere Tage, mehrere Wochen, alles auf einer Seite. Inhaltlich ist es das, was man erwarten würde: Ereignisse und Gefühle, Erfolge und Misserfolge beim Fischen, das Meer und das Wetter, Probleme und Lösungen, Richard Parker. Lauter praktische Dinge.
Kapitel 74
Ich hielt meine Gottesdienste ab, so gut es unter solchen Umständen ging - einsame Messen ohne Priester und ohne geweihte Hostie, Darshans ohne Murtis und Pujas mit Schildkrötenfleisch als Prasad, Gebete zu Allah, auch wenn ich nicht wusste, in welcher Richtung Mekka lag und mein Arabisch mehr als dürftig war. Sie waren mir ein Trost, das steht fest. Aber es war schwer, das muss ich sagen. Der Glaube an Gott ist ein Sichöffnen, ein Loslassen, ein tiefes Vertrauen, eine bedingungslose Liebe - aber manchmal war es so schwer zu lieben. Manchmal sank mein Herz vor Wut, Verzagtheit und Erschöpfung so tief, dass ich befürchtete, es würde bis ganz hinab auf den Grund des Pazifiks sinken und ich würde es nie wieder heraufziehen können.
In solchen Augenblicken versuchte ich mir Mut zu machen. Ich fasste mir an den Turban, den ich mir aus den Überresten meines Hemds gewunden hatte, und rief: » DAS IST GOTTES HUT !«
Ich fuhr mir über meine Hosen und rief: » DAS SIND GOTTES KLEIDER !«
Ich wies auf Richard Parker und rief: » DAS IST GOTTES KATZE !«
Ich wies auf das Rettungsboot und rief: » DAS IST GOTTES ARCHE !«
Ich breitete meine Arme weit und rief: » DAS SIND DIE GÖTTLICHEN GEFILDE !«
Ich hob den Finger zum Himmel und rief: » DAS IST GOTTES OHR !«
Auf diese Weise rief ich mir ins Gedächtnis, was die Schöpfung war und wo ich meinen Platz darin hatte.
Aber Gottes Hut hielt nicht zusammen. Gottes Hosen zergingen. Gottes Katze war eine Bedrohung rund um die Uhr. Gottes Arche war ein Gefängnis. Die göttlichen Gefilde brachten mich langsam, aber stetig um. Gottes Ohr hörte anscheinend überhaupt nicht mehr zu.
Verzweiflung war ein ewiges Dunkel, in das kein Lichtstrahl drang. Eine namenlose Hölle. Ich danke Gott, dass sie jedes Mal wieder verging. Ein Schwarm Fische näherte sich dem Netz oder ein Knoten löste sich und musste neu geknotet werden. Oder ich dachte an meine Familie, daran, dass ihnen diese entsetzlichen Leiden erspart geblieben waren. Das Dunkel hob sich, und schließlich war es fort, aber Gott blieb, ein Licht in meinem Herzen. Ich würde weiterlieben.
Kapitel 75
An dem Tag, der nach meiner Berechnung Mutters Geburtstag sein musste, sang ich laut »Happy Birthday« für sie.
Kapitel 76
Ich gewöhnte mir an, bei Richard Parker sauber zu machen. Sobald ich merkte, dass er seinen Darm entleert hatte, beseitigte ich es, eine gefährliche Unternehmung, bei der ich den Kot mit dem Fischhaken zu mir heranscharrte und dann auf die Plane holte. Fäkalien können mit Parasiten infiziert sein. Das spielt für frei lebende Tiere keine Rolle, denn sie bleiben in der Regel nicht in der Nähe dieser Fäkalien und kümmern sich nicht weiter darum; Baumbewohner bekommen ihren Kot kaum zu Gesicht, und Landtiere entleeren sich und ziehen dann weiter. Für das kompakte Territorium
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