Schillerhoehe
Grenze Vorrang. Leider verlor Freund außer durch die Nebenbemerkung ›ungeachtet der tragischen Vorfälle im vergangenen Sommer‹ darüber kein Wort, wahr scheinlich aus Gründen der Pietät.
Stattdessen kündigte der neue Direktor an, eine Brü cke schlagen zu wollen zwischen literarischer Tradi tion und den zeitgenössischen Versuchen, sie unter den heutigen Bedingungen rezeptiv weiterzuentwickeln. »Ich empfehle Ihnen, heute Abend zur Lesung unseres Lokalmatadors Siegfried Derwitzer zu kommen«, sagte Freund mit einem aufmunternden Lächeln in Rich tung Derwitzer. »Er hat einen Lokalkrimi geschrie ben, in dem er die Zerstörung unserer Archivräume verarbeitet hat.«
Applaus brandete auf, Derwitzer hob die Hand, um abzuwinken. »Mir wäre lieber, ihr kämt dann auch alle und kauft das Buch!«, rief er der Versammlung zu und erntete dafür Gelächter.
Mit dieser Einlage war dann auch schon die Brü cke zum Tag des offenen Literaturkellers geschla gen. Der neue Direktor des Literaturarchivs gab sich im Gespräch mit dem Reporter Luca Santos als gro ßer Krimifan zu erkennen. »Ich möchte den Bestand bewusst für diese Gattung öffnen«, betonte Freund und berief sich dabei auf die wachsende Zahl von Auto ren, die den Krimi als Spiegel ihrer kritischen Wahr nehmung der Gesellschaft nutzten. »Und eins muss ich Ihnen auch noch gestehen: Ich mag den schwä bischen Wein ebenso wie den Menschenschlag hier.« Freund, der aus dem Raum Ulm stammte, war von der Findungskommission der Deutschen Schillerge sellschaft als Schwabe bewusst ausgewählt worden. Man wollte offenbar dadurch auch verhindern, dass sich erneut ein gänzlich unwürttembergischer Blind gänger in die Führungsetage des Instituts einschlei chen konnte. Dass Freund das Detektivische schätzte, konnte man auch am neuen audiovisuellen Museums führer erkennen. Ein Krimiautor gestaltete den geführ ten Rundgang als Kriminalfall – der Museumsgast wird praktisch zum Ermittler.
Ilse Bäuerle, die Sekretärin, zeigte sich jedenfalls rest los begeistert. »Unser Literaturmuseum der Moderne ist ja schon spitze«, schwärmte sie, »aber mit dem neuen Krimirundgang kann ich endlich auch meine Freun dinnen aus dem Hohenlohischen mal zum Besuch des LiMo einladen – das sind alles richtige Krimimie zen.«
Peter Struve, der zufällig mit Marie in der Nähe stand und die Lobeshymne mitanhörte, wurde vom Poli zeipräsidenten Hans Kottsieper unauffällig beiseite genommen. »Hören Sie Struve, was ich Ihnen sagen wollte: Sie haben sich bisher ganz vorbildlich verhalten. Ich habe nirgendwo ein Wort davon gelesen, dass ich Sie damals vom Dienst suspendiert habe – ich möchte auch, dass das so bleibt. Haben wir uns da richtig ver standen?«
Struve antwortete ihm nicht. Er grinste und ließ Kottsieper stehen. »Sie entschuldigen mich, ich muss Herrn Santos noch hallo sagen.«
»Aber …« Kottsieper schluckte.
Struve ging zu Santos und gab ihm die Hand. »Na, schöner Tag heute, finden Sie nicht auch, Herr San tos?«
»Kann man wohl sagen, Sie hats also auch wieder hierher gezogen?«
Der Kommissar nickte. »Man weiß nie, ob noch mehr Leichen im Keller herumliegen.«
Santos lachte. »Ja, wenn Sie mal wieder eine haben – meine Telefonnummer kennen Sie ja bereits.«
Gustav Zorn, der Redaktionsleiter des Marbacher Kurier, trat hinzu.
»Ach, grüß Gott, Herr Struve, wie gehts Ihnen? Haben Sie den Schock hier gut verdaut? So eine Explo sion aus nächster Nähe soll ja aufs Gehör gehen.«
Struve schüttelte den Kopf, und schlug sich mit der flachen Hand aufs Ohr, als ob dort eine Fliege säße. »Wie bitte?«
Zorn und Santos lachten. Der Redaktionsleiter bot dem Kommissar eine Havanna an.
»Danke, ich bin Nichtraucher. Aber vielleicht nimmt meine Frau eine?«
Marie Struve trat hinzu. »Eine Havanna? Na, die habe ich noch nie probiert. Zeigen Sie mal.«
Zorn zückte sein Feuerzeug, Marie Struve schmauchte, begann aber zu husten.
»Gewöhnungsbedürftig«, krächzte sie. »Aber wir könnten uns Havanna trotzdem mal aus der Nähe anschauen«, sagte sie mit einem Augenzwinkern zu ihrem Mann.
»Nee, Schätzle«, antwortete Peter Struve. »Du weißt doch, dass uns Interkontinentalflüge den KlimaArsch aufreißen.« Marie lächelte. Sie hatte ihn im September doch noch für die Reise zu der Wirkungsstätte von Frida Kahlo gewinnen
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