Schimmer (German Edition)
mich die zwanzig Kilometer zur Schule in Hebron, Nebraska, fuhr. Bis zu unserem Briefkasten, der in der Nacht von Opas Rumpelsorgen drei Meter weiter westlich geschoben worden und dann umgekippt war, ging es über einen langen Moddermatschweg, und ich musste meinen Grübelbruder schieben und schubsen. Während wir auf den Bus warteten, sagte Samson nicht viel, aber das tat er ja nie.
»Da sind Missi-Pissi und ihre Gewitterwolke«, sagte Ashley Bing jeden Morgen, wenn Samson und ich in den Bus stiegen. Und jeden Morgen wiederholte Emma Flint »Missi-Pissi!« und prustete los, als wäre es jedes Mal ein neuer, urkomischer Witz. Meine Mitschüler hatten schon an meinem allerersten Schultag herausbekommen, dass ich in Wirklichkeit Mississippi heiße, leider. Über uns Beaumonts wurde so schon genug getuschelt und gekichert. Böse Gerüchte gingen um, und ich kannte sie alle.
»Guck mal, da kommen die Verrückten. Meine Mom hat gesagt, die mussten hierherziehen, weil einer von ihnen Riesenärger hatte.«
»Ich hab gehört, der älteste Bruder ist von einem Blitz getroffen worden und jetzt ist er gefährlich und geht kaum aus dem Haus.«
»Die Familie müsste eigentlich in einer Arche leben. Bei denen stürmt es fast immer; irgendwann werden die bestimmt noch weggeschwemmt.«
Ich wusste, dass ich, wenn ich meine dreizehn tropfenden Kerzen ausgepustet hatte, der Hebron-Schule adieu sagen würde und damit auch Ashley Bing und Emma Flint und all den anderen. Nach meinem Geburtstag würde mein armer Grübelbruder Samson als einsamer Schatten hinten in dem großen orangen Bus sitzen, während ich zu Hause mit Fish und Rocket in Einmachgläsern Moos züchtete.
Wir Beaumont-Kinder hatten es schwer, Freunde zu finden und sie zu behalten. Solange Fish und Rocket noch lernen mussten, ihren Schimmer in Schach zu halten, war es zu gefährlich, jemanden einzuladen; wir konnten nicht riskieren, dass alles herauskam oder dass jemand, falls meine Brüder die Beherrschung verloren, durch Funken oder einen Sturm verletzt wurde. Es konnte Jahre dauern, bis man einen Schimmer gezähmt hatte, und Momma und Poppa sagten, das Auf und Ab des Großwerdens mache es noch schwieriger.
Mein letzter Tag in der Hebron-Schule war ein schleichender Schneckentag. Es war schwer, verdammt schwer, sich auf x + y = z zu konzentrieren, wenn man mit den Gedanken die ganze Zeit im Salina Hope Hospital war. Noch schwerer war es, Akzent und Achillessehne und Accessoire (A-Doppel-c-e-Doppel-s-o-i-r-e) richtig zu schreiben, während man daran dachte, wie Poppa darauf wartete, dass Momma kam und ihn mit einem Märchenkuss wach küsste, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich besonders oft in meinem Leben Accessoire schreiben musste. Aber am schwersten zu ertragen waren die Blicke und das Getuschel von Ashley Bing und Emma Flint, als die Lehrerin sagte: Jetzt möchte ich, dass wir uns alle zusammen ganz herzlich von Mibs Beaumont verabschieden. Heute ist ihr letzter Tag an unserer Schule. Ab der nächsten Woche bekommt Mibs Hausunterricht.«
Alle drehten sich zu mir herum und sahen mich an. Keiner lächelte oder machte sonst irgendetwas Herzliches. Die meisten zuckten die Achseln und drehten sich sofort wieder um.
»Missi-Pissi bleibt jetzt zu Hause bei ihrer Mami«, sagte Ashley, als spräche sie zu einem Baby – so leise, dass die Lehrerin es nicht hörte.
»Bei ihrer Mami«, wiederholte Emma.
»Sie bleibt zu Hause, damit keiner sieht, was für eine einsame Irre sie ist«, höhnte Ashley.
»Was für eine Irre«, plapperte Emma ihr nach wie ein boshafter Papagei.
Ashley und Emma konnten von Glück sagen, dass Momma uns zu Hause ließ, sobald unser Schimmer auftauchte. Am Ende des Schultages hoffte ich, dass mein Schimmer mir die Kraft verleihen würde, fiese Mädchen in grüne Glibberfrösche zu verwandeln oder ihnen mit einem Kopfnicken den Mund zuzukleben.
Als Samson und ich am Nachmittag nach Hause kamen, stand vor unserem Haus ein glänzender goldener Minivan, und Fish spritzte ihn wütend mit dem Gartenschlauch ab. Ich erkannte den Wagen sofort an dem Lufterfrischer in Form eines lächelnden Engels, der vor der Windschutzscheibe baumelte. Es war der Wagen von Miss Rosemary, der Frau des Predigers.
Trotz ihrer Angst vor Schimmer-Katastrophen bestand Momma darauf, dass die ganze Familie jeden Sonntag in die Kirche von Hebron ging, und Miss Rosemary kannten wir alle gut. Sie roch nach
Weitere Kostenlose Bücher