Dunkler Grund
1
Hester Latterly saß im Zug und sah durch das Fenster auf die weite, sanft hügelige Landschaft des schottischen Tieflandes hinaus.
Die frühe Oktobersonne stieg aus einem Schleier am Horizont empor. Es war kurz nach acht, über den Stoppelfeldern hing noch so viel Morgendunst, daß die großen Bäume, an deren Zweigen hier und da schon ein paar goldene Blätter schimmerten, in der Luft zu schweben schienen. Die Häuser waren aus festem grauen Stein und wirkten bei weitem schroffer als die Häuser im Süden mit ihren sanfteren Farben. Man sah hier keine Strohdächer, keine mit Stuck verzierten Hauswände; dafür qualmte es aus hohen Schornsteinen, und die Stufen der Staffelgiebel zeichneten sich scharf gegen den Himmel ab.
Vor beinahe anderthalb Jahren – der Krimkrieg neigte sich dem Ende zu – war sie nach Hause zurückgekehrt, weil ihre Eltern gestorben waren. Lieber wäre sie bis zum bitteren Ende in Scutari geblieben, aber die Familientragödie hatte ihre Anwesenheit erforderlich gemacht. Seitdem versuchte sie, ein paar von den neuen Methoden der Krankenpflege anzuwenden, die sie sich mühselig angeeignet hatte; darüber hinaus hatte sie alles darangesetzt, die veralteten englischen Vorstellungen von Krankenhaushygiene in Übereinstimmung mit Miss Nightingales Theorien zu reformieren. Zum Dank für diese Bemühungen war sie als rechthaberische und renitente Person entlassen worden. Wie hätte sie sich gegen diesen Vorwurf wehren sollen? Er traf ja zu.
Ihr Vater war in Armut und Schande gestorben. Für sie oder ihren Bruder Charles war kein Geld übriggeblieben. Natürlich hätte Charles für sie gesorgt, und sie hätte bei ihm und seiner Frau leben können, aber diese Abhängigkeit wäre ihr unerträglich gewesen. Innerhalb kurzer Zeit hatte sie eine Stellung als Privatschwester gefunden, und nachdem der Patient genesen war, hatte sie sich die nächste gesucht. Manche waren angenehm, andere weniger, doch länger als eine Woche war sie niemals ohne bezahlte Stellung gewesen. Sie war ihre eigene Herrin.
Diesen Sommer hatte sie für kurze Zeit eine Stelle in einem Krankenhaus angenommen; ihre Freundin und häufige Gönnerin Lady Callandra Daviot hatte sie dringend darum gebeten, als Dr. Kristian Beck nach dem plötzlichen Tod Schwester Barrymores Strafverfolgung und Gefängnis drohten. Nachdem die Sache geklärt war, hatte Hester wieder eine private Stellung angetreten, aber die Arbeit dort war nun auch beendet, und sie mußte sich etwas Neues suchen.
In einer Londoner Zeitung war sie auf eine Anzeige gestoßen. Eine prominente Edinburgher Familie suchte eine junge Frau aus gutem Hause mit etwas Erfahrung in Krankenpflege, um Mrs. Mary Farraline, eine alte Dame von zarter, aber keineswegs kritischer Gesundheit, auf einer sechstägigen Reise nach London zu begleiten. Miss Nightingales Damen würden bevorzugt behandelt, hieß es in der Anzeige. Selbstverständlich würde die Familie für alle Reisekosten aufkommen, und für die in Anspruch genommenen Dienste stellte man eine großzügige Vergütung in Aussicht. Bewerbungen seien an Mrs. Baird McIvor, Ainslie Place 17, Edinburgh, zu richten.
Hester war noch nie in Edinburgh gewesen – sie war überhaupt noch nie in Schottland gewesen –, und die Vorstellung, zu dieser Jahreszeit zweimal mit dem Zug dorthin und zurück fahren zu dürfen, erschien ihr äußerst reizvoll. In einem Brief teilte sie Mrs. McIvor ihre Qualifikationen mit und erklärte ihre Bereitschaft, die Aufgabe zu übernehmen.
Vier Tage später erhielt sie eine Antwort; ihrer Zusage hatte Mrs. McIvor eine Fahrkarte zweiter Klasse für den kommenden Dienstag beigefügt; der Zug würde London um 21.15 Uhr verlassen und am nächsten Morgen um 8.35 Uhr in Edinburgh eintreffen. An der Waverly Station sollte sie von einem Wagen abgeholt und zum Haus der Farralines gebracht werden, wo sie den Tag über Zeit hätte, sich mit ihrer Patientin bekannt zu machen. Am selben Abend würden sie und Mrs. Farraline den Zug zurück nach London besteigen.
Hester hatte sich ein wenig über Edinburgh informiert, auch wenn sie, kaum daß sie eingetroffen war, wieder abreisen mußte, zumindest bei ihrem ersten Besuch. Vielleicht blieben ihr nach ihrer Rückkehr mit Mrs. Farraline aus London noch ein, zwei Tage Zeit, sich die Stadt ein wenig anzusehen. Hester wußte, daß Edinburgh zwar die Hauptstadt Schottlands, aber mit nur einhundertsiebzigtausend Einwohnern erheblich kleiner als London mit seinen beinahe drei
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