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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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sie lange genug gelebt hätten, war es
vollkommen unverständlich, dass er Kriminalpolizist geworden
war. Jahrhunderte der Unterdrückung machten die Tätigkeit
bei den Gesetzeshütern für einen Juden zu einem Ding der
Unmöglichkeit. Die Polizei war der Feind, das Werkzeug der
Tyrannen. Warum war er nicht Anwalt geworden, wenn er wirklich so
am Gesetz interessiert war? Stattdessen war er Polizist geworden.
Und dazu auch noch ein berühmter. Aber für einen durch
und durch pragmatischen Mann wie Max Gottmann, dem Begründer
von Gottmann
Moden ,
zählten keine bourgeoisen Empfindlichkeiten, sondern nur der
Erfolg.
    »Gott
weiß, Bettie«, er warf seiner Frau einen finsteren
Blick zu, »dass es allein die Polizei ist, die diesem Land
eine gewisse Stabilität verleiht. Schließlich dient der
Mann der Republik und nicht dem Zaren.« Er wandte sich Kraus
zu und sah ihn besorgt an. »Wie geht es dir, mein Sohn? Was
macht diese schreckliche
Erkältung?«    
    Nachdem die Jungs eine
Liste von Erfolgen in der Schule heruntergerattert hatten –
Erich hatte die beste Note in einer Erdkundearbeit geschrieben, und
Stefan spielte eine Rolle beim Winterfest seiner Grundschule
–, fragte Kraus Ava, wie es an der Universität
lief.
    »Willi! Jetzt
sag nicht, dass du es vergessen hast. Ich habe meinen Abschluss
gemacht, vor anderthalb Jahren.«
    Er lief rot an.
»Ja, natürlich. Wie dumm von mir.« Er starrte auf
seinen Teller, als stünde dort etwas geschrieben. »Und
was machst du jetzt? Ich meine, außer die Jungs so
phantastisch zu erziehen?«
    Manchmal fiel es ihm
wirklich schwer, Ava anzusehen, weil sie seiner toten Frau so
ähnlich sah. Sie hatte die gleiche samtene Haut, die gleichen
walnussbraunen Augen und den gleichen langen, geschwungenen
Hals.
    »Das habe ich
dir schon ein Dutzend Mal erzählt. Ich habe einen
Teilzeitjob.«
    »Ja,
entschuldige. Was arbeitest du noch gleich?«
    »Ich bin
Korrespondentin, Willi. Ich schicke Artikel von allem, was an der
Universität so passiert, an eine der großen Zeitungen
von Ullstein.«
    »Das ist
faszinierend. Dann kennst du sicher meinen alten Kriegskumpel Fritz
…«
    »Ja, den kenne
ich, Dummerchen. Ich arbeitete für Fritz.«
    Er bemerkte Avas
amüsiertes Lächeln. Du lebst wirklich vollkommen in
deiner eigenen kleinen Welt , schien es zu sagen.
    Vicki hatte eine
vollkommen natürliche, glamouröse Ausstrahlung gehabt.
Wann immer Kraus sie angesehen hatte, hatte er gedacht, man sollte
sie in dieser Pose auf einem Werbeplakat am Potsdamer Platz
ausstellen. Sie war so perfekt, so voll unbewusster Anmut. Ava
dagegen hätte seiner Meinung nach eher hinter die Kamera als
vor sie gepasst. Nicht, dass sie weniger entzückend gewesen
wäre, sie war einfach nur mit einer anderen Art von Eleganz
gesegnet: mit der eines scharfen Intellekts und künstlerischer
Begabung. Es freute ihn, zu hören, dass sie weiterhin schrieb.
Was sie bei Fritz suchte, stand allerdings auf einem anderen
Blatt.     
    »Also …
wie stehen denn die Dinge an der
Universität?«
    Ihre Augen verdunkeln
sich schlagartig. »Absolut schrecklich. Noch vor einem Jahr
hätte ich es niemals geglaubt. Die gesamte Studentenschaft ist
mit fliegenden Fahnen zu den Nazis übergelaufen. Gegen die
Nazis eingestellte Fakultäten werden boykottiert.
Jüdische Professoren und Studenten bekommen Hassbriefe, in
denen ihnen nahegelegt wird, zu verschwinden. Auf den Gymnasien ist
es nicht anders. Erich hat sich bis jetzt zwar noch nicht
darüber beschwert, aber schließlich hole ich ihn selbst
von der Volksschule ab und habe ja Augen im Kopf. Jede Woche
tauchen mehr Schüler in den Uniformen der Hitlerjugend auf.
Ich weiß nicht, wie lange es dort für ihn noch zu
ertragen sein wird.«
    Kraus kam sich vor wie
ein Mann auf einem Ozeanriesen, der plötzlich Wasser unter
seinen Füßen spürt. »Aber … was
schlägst du dann vor, Ava?«
    »Ich weiß
es nicht.« Sie hob eine Braue, genau wie Vicki es immer getan
hatte. »Vielleicht müssen wir ihn mit Stefan an die
Schule Jung-Judäa zurückschicken.«
    »Erich.«
Kraus sah seinen älteren Sohn an. »Hast du Ärger an
der Volksschule, weil du Jude bist?«
    Erich wurde blass. Er
schien antworten zu wollen, schwieg jedoch. Normalerweise war er
kein Kind, dem die Worte fehlten.
    Seine Reaktion sagte
Kraus mehr als genug. »Kannst du dieses Schuljahr noch
beenden?«, fragte er beunruhigt. »Es sind nur noch
… wie lange dauert es? Noch zwei Wochen?«
    Erich schüttelte
den Kopf. »Es

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