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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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EINS
    Berlin, November
1932
    Die Beine der Dietrich
waren Zauberstäbe, schlanke, hypnotische Instrumente, die
Millionen faszinierten. Kraus konnte sich ihren Charme
bedauerlicherweise nur unter dem männlichen Hosenanzug
vorstellen, den sie an diesem Nachmittag bei Fritz trug. Er war von
den politischen Prophezeiungen gelangweilt, die sich dieser Tage in
jedermanns Gespräche drängten, und er hatte schwer damit
zu kämpfen, die Augen offen zu halten. Zu seinem Glück
malträtierte der Bauhausstuhl aus Stahlrohr, auf dem er
saß, seinen Hintern zu Tode.
    »Und was
möchten Sie, Herr Kriminalinspektor?«
    Er griff nach einem
weiteren Glas Champagner. Obwohl sein Gehirn zu fliegen schien, war
diese Feier einfach nur deprimierend. Wo sonst hätte Marlene
Dietrich auch auftauchen sollen, wenn nicht auf Fritz’
Einweihungsparty? Halb Berlin war mit diesem alten Kriegskumpel gut
Freund. Und sie alle schienen herausgefahren zu sein, um sich
seinen neuen Palast im Grunewald anzusehen. Schlanke, lange
Glasscheiben bogen sich um ein gekrümmtes Wohnzimmer, das vor
Gemälden von Klee und Modigliani überquoll. Das Haus war
ein weiteres Meisterwerk Erich Mendelsohns, des Stararchitekten der
Weimarer Republik, der sich vor den Komplimenten, die auf ihn
herabprasselten, artig verbeugte.
    »So leicht. So
frei.« Die Dietrich betastete eine schimmernde
Brancusi-Statuette. »So modern!« Was den Rest der Stadt
anging – sie verzog ihr Gesicht zu einer Trauermiene –
so fand sie, dass sie stank. In den zwei Jahren seit ihrem letzten
Aufenthalt, so erklärte der große Star, sei Berlins
berühmte, belebende Luft wirklich verfault.
    »Ich verstehe
gar nicht, wie Sie hier überhaupt atmen können.«
Sie ließ mit einer eleganten Bewegung ein goldenes
Zigarettenetui aufschnappen und setzte sich zu den anderen auf die
mit Rohseide bezogene Couch. Ȇberall der Gestank von
Braunhemden. Sie kauern wie Paviane vor den Kaufhäusern und
schütteln einem diese verdammten Blechdosen vor der Nase
herum.«
    »Weil sie
hoffnungslos verschuldet sind.« Der General, der ihr
gegenübersaß, schob ein silbernes Monokel in sein Auge.
Er trug sogar zu dieser legeren Nachmittagseinladung seine
Ausgehuniform mitsamt dem kompletten Gehänge aus Bronzeorden.
Wenn schon nicht seine Klugheit, so erlaubte ihm doch seine
Position, gewisse Dinge glaubwürdig zu äußern. Kurt
von Schleicher war Kriegsminister, Kommandeur der Armee und einer
der berüchtigtsten Intriganten Berlins. »Die Nazis
stehen vor dem Ruin, meine Teuerste«, verkündete er,
»sowohl finanziell als auch anderweitig.«
    Kraus’ Augen
wurden langsam glasig.
    »Sehen Sie sich
doch nur die Wahlplakate dieses Monats an«, meinte von
Schleicher lachend. »›Hitler über
Deutschland‹, also wirklich! Der Mann ist in zehn
Städten rausgeflogen und hat zwanzig Prozent seiner
Reichstagssitze eingebüßt.«
    »Seine Partei
ist immer noch die stärkste Kraft«, ergänzte
Fritz’ Exfrau Sylvie jammernd.
    »Aber sie hat
ihren Zenit überschritten.« Der General nahm sein
Monokel aus dem Auge. »In einem Jahr, das versichere ich
Ihnen, werden Sie sich nicht einmal mehr an Hitlers Namen
erinnern.«
    Es war eine ungeheuere
Erleichterung, als sich Fritz’ Butler vorbeugte und
flüsterte, es gebe einen Anruf für den Herrn
Kriminalinspektor.
    »Sie können
ihn in der Bibliothek annehmen, wenn es Ihnen beliebt, mein
Herr.«
    »Bitte
entschuldigen Sie mich.« Kraus erhob sich und schüttelte
seine halb abgestorbenen Beine aus.
    Dann humpelte er den
langen, weißen Flur entlang und gelangte zu einem von
Glaswänden umschlossenen Raum, der eher an ein Aquarium als an
eine Bibliothek erinnerte. Gunther war am Telefon. Er rief vom
Alexanderplatz aus an.
    »Ist sie so
schön wie auf der Leinwein? So sexy wie die verruchte
Lola?«
    »Wovon reden
Sie, Gunther?«
    »Entschuldigen
Sie, Chef. Aber es ist wieder eine Wasserleiche aufgetaucht.
Diesmal ist es ein Mädchen. In Spandau, unter der
Zitadelle.«
    Kraus schnürte es
die Kehle zu. »Also gut. Ich bin unterwegs.«
    »Ja, Chef. Ich
sage Bescheid.«
    »Ach, und
Gunther?«
    »Ja, Herr
Inspektor?«
    »Sie ist es.
Jeder gottverdammte Zentimeter. Selbst in
Männerhosen.«
    »Ich wusste es!
Eine Million Mal Dank, Chef.«
    Will hängte den
Hörer auf die Gabel zurück und blieb einen Augenblick
stehen. Leichen in Flüssen waren in diesen Zeiten für
Berlin keine große Sache. Aber er hatte noch nie gehört,
dass eine in Alt-Spandau auftauchte. Und dann noch

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