Schlag weiter, Herz
grüßten mit einem Kopfnicken. Mert schob sich durch den Mittelgang, seine Tasche blieb an Armlehnen und schlafenden Kollegen hängen. Nadja saß entgegen der Fahrtrichtung an einem der kleinen Tische neben Felix Borau, dem Star der Hamburger Boxauswahl. Sie wirkte wie eine Porzellantasse in einem Maschinenraum.
Als Mert an ihrer Reihe vorbeiging und sich umdrehte, sah sie ihn mehrere Sekunden an, und ihre Ausdruckslosigkeit schien etwas zu verschleiern. Sie lächelte kurz, bevor sie sich in das Buch flüchtete, das aufgeschlagen auf dem Tisch vor ihr lag. Mert fing Felix’ Blick auf, der wortlos sein Revier sicherte. Zwei Bankreihen weiter fand Mert einen freien Platz und ließ sich hineinfallen. Keine Stelle an seinem Körper war trocken geblieben.
Während der Bus durch den Regen fuhr, packte Mert seine Kampfkleidung aus der Sporttasche. In der Reihe neben ihm döste ein Fliegengewichtler, auf dessen grauem Sweatshirt in großen Lettern »Boxen« gedruckt stand. Der Junge hatte sich in seinen Pulli gewickelt wie in eine Decke. Mert streifte sich die nassen Sachen ab und kramte in seiner Tasche. Zwischen Duschgel, Boxhandschuhen und Kopfschutz fand er einen ausgeblichenen Guns-N’-Roses-Pullover. Er wischte sich mit einem Handtuch trocken und suchte nach seinem Deo. Der Junge auf der anderen Seite des Gangs drehte sich im Halbschlaf zur Seite und motzte. »Whoa Alter, du stinkst.«
Mert sprühte Unmengen von Deo unter seine Achseln, was seinen Nachbarn endgültig aufweckte.
»Das ist ja abartig, willst du uns vergasen?« Der Junge schob seine Kapuze zurück und sah Mert nackt in der Bankreihe neben sich sitzen. »Alter, wenn du nicht doppelt so groß wärst wie ich, würde ich alle wach machen, damit sie das sehen können.«
Mert schlüpfte in seine Kampfhose. Danach streckte er seine Faust zum Gruß über den Gang.
»Mert.«
»Ali«, erwiderte der Junge, als er mit seiner Faust einmal oben und einmal unten auf Merts Faust klopfte.
Mert kannte Ali Örgen, den einzigen Hamburger Verbandsboxer, der einen ähnlich beeindruckenden Kampfrekord vorzuweisen hatte wie Felix Borau. Deutscher Meister im Fliegengewicht, Jugendeuropameister. Mert hatte ihm öfter beim Sparring zugesehen. Ali boxte technisch überragend, schnell und stark. Er war ein Titan im Ring. Aber in Zivilkleidung wirkte er wie ein Zwerg, 1,62 Meter groß, was Mert besonders deutlich auffiel, als Ali neben ihm im Bus hockte und in seinem großen Sweatshirt wie ein Kind aussah.
Mert zog sein Vereinsshirt an und den alten Pullover darüber. Auf seiner Brust war nun »Appetite for Destruction« zu lesen, und das passte sehr gut zu seinen Absichten.
Der Bus glitt knapp oberhalb der vorgeschriebenen Geschwindigkeit durch den Regen nach Schwerin. Mert fühlte sich ausgelaugt, doch er konnte nicht schlafen. Er suchte nach einer Stellung, in der er zur Ruhe kam, landete aber immer in einer Position, aus der er in Nadjas Richtung sehen konnte. Felix Borau schien Mert zu beobachten. Beide kannten sich vom Verbandstraining. Felix war die Geheimwaffe des Hamburger Boxverbandes, Kaderboxer der ehemaligen DDR mit erstklassiger Grundausbildung.
Um der Beobachtung durch Felix zu entgehen, stand Mert auf und stellte sich in den Gang. Erst als ihm bewusst wurde, dass seine Aktion eine Folgeaktion verlangte, schob er sich zum Verbandstrainer nach vorne. Thorsten Gersch blickte von seinem Kreuzworträtsel auf und sah Mert fragend an.
»Noch irgendwelche Tipps, Trainer?«
»Ran an den Mann und harte Haken schlagen, das ist doch deine Spezialität.«
Gersch hatte es aufgegeben, eine Kampftaktik mit Mert zu besprechen. Mert tat, was er konnte, und durfte mit, weil Gersch sonst keinen konkurrenzfähigen Schwergewichtler im Aufgebot hatte. Mit seinen 182 Zentimetern Körpergröße wäre Mert im Halbschwergewicht besser aufgehoben gewesen, aber er hatte Probleme, unter dem Limit von 81 Kilogramm zu bleiben. Und im Halbschwergewicht war an Felix sowieso kein Vorbeikommen.
Obwohl Merts Gegner laut Kampftabelle zehn Zentimeter größer war, würde er schlagbar sein.
»Der hat nur sechs Kämpfe gemacht«, erklärte Gersch.
»Warum tritt der Russe eigentlich gegen mich an, wenn er so wenig Kämpfe hat?«
»Kiew ist nicht in Russland, sondern in der Ukraine, und wir haben dich mit null Kämpfen angemeldet.«
Mert wollte etwas einwenden. »Im Schwergewicht hast du null Kämpfe«, sprach Gersch weiter, »und es macht deinem Gegner auch keinen Spaß, wenn er umsonst
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