Schlechte Gesellschaft
Gellmann damals ein anderer gewesen sei. Wieland bat sie, die Veränderung doch genauer zu beschreiben. Da war die Frau unvermittelt laut geworden. Er solle ihr doch wenigstens diese Erinnerung lassen, sagte sie. Sie sei alles, was ihr von damals geblieben wäre.
Eine Zeit lang hatte Wieland daraufhin nur noch mit den Briefen gearbeitet. Vielleicht hatte die Frau recht gehabt. Vielleicht bedeutete das Weitergeben zugleich auch das Hergeben der Erinnerungen. Es könnte die Menschen verletzen, wenn ihre Schilderungen, mit Anmerkungen versehen, bereinigt und an die Ãffentlichkeit gebracht, auf sie zurückfallen würden. Vielleicht würden einige der Zeitzeugen es bereuen, mit ihm gesprochen zu haben.
Nach Monaten der Schreibarbeit, die er konzentriert und allein in seiner kleinen Wohnung, in den Archiven und Bibliotheken verbracht hatte, nahm Wieland seine Unsicherheit, die längst in Gereiztheit umgeschlagen war, immer deutlicher wahr. Sein Doktorvater hatte sicherlich recht, wenn er behauptete, dass Wieland lediglich unter einer klassischen Promotionsdepression litt.
Er hatte sich diesen kurzen Ausflug verdient, dachte Wieland, als er kräftig ausschreitend die zentrale GeschäftsstraÃe von Sehlscheid erreichte. Ganz erfolglos war die Reise schon jetzt nicht mehr. Immerhin hatte er Vahlens Familie getroffen und gesehen, wie sie lebte. Er hatte Judith kennengelernt, die Gellmanns Werk als Ãbersetzerin und Frau beeinflusst haben musste.
In der Drogeriefiliale am Marktplatz kaufte Wieland Zahnseide, die ihm ausgegangen war, legte nach kurzem Zögern einen DVD-Schuber mit der ersten Staffel von Villa Westerwald auf das Laufband, der im Sonderangebot war, und fragte an der Kasse nach einem Blumengeschäft.
»Stenzel. Gleich links runter, am Ende des Kirchwegs«, sagte die junge Kassiererin. Sie lachte, als habe er vor, die Blumen für sie zu kaufen.
»Natürlich, Stenzel.« Auch Wieland lächelte. An den Namen des Floristen, über den er endlich an die Adresse der Vahlens gekommenwar, hätte er sich gleich erinnern müssen. AuÃerdem fand er die Drogistin mit ihren kleinen, runden Brüsten unter dem schlichten Kittel gar nicht übel.
Doch dann sah die junge Frau die DVDs. Ihr Gesicht verzog sich zu einer undeutlichen Grimasse. Sie holte tief Luft. »Haben Sie das noch nicht gesehen?«
»Ich habe den Roman gelesen«, sagte Wieland.
»Sie wissen, dass das in Sehlscheid spielt?«, fragte die Frau, plapperte aber sofort weiter. »Gedreht haben die natürlich gröÃtenteils in Kroatien. Das war billiger. Aber Henning Karge, der da mitspielt, Greta Filber und sogar Minna Maria Garns waren mal mit dem Filmteam in Sehlscheid. Meine Freundin hat mir erzählt, in Koblenz hätten sie die Hochzeit nachgestellt, sie wissen schon.«
Wieland nickte nur. Die Verkäuferin schien ihm jetzt etwas Vulgäres, Ungepflegtes auszustrahlen.
»Wenn Sie das hier gesehen haben, kommen Sie wieder«, sagte sie, als gelte es, eine Wette abzuschlieÃen. Und etwas anzüglich fügte sie hinzu: »Wir haben auch noch die anderen Staffeln.«
Zurück auf der StraÃe bemühte sich Wieland, den Zwischenfall nicht überzubewerten. Wenn er schon nicht an die Briefe herankam, wollte er sich zumindest erholen. Er hatte Zeit, sagte er sich. Zu Hause, diese Tatsache empfand er zum ersten Mal als befreiend, wartete ohnehin niemand auf ihn.
Nur eine Frau hatte Wieland in seinem Leben wirklich etwas bedeutet. Er hatte Maike kurz nach seiner Ankunft in Duisburg kennengelernt, vor dem Anschlagbrett, wo sie gerade einen Zettel plaziert hatte. Sie suchte einen neuen Mitbewohner. Er mochte ihre lustige und unkomplizierte Art auf Anhieb. Und so zog er bei ihr ein.
Zwei Jahre waren sie zusammen gewesen. Dann war es vorbei. Erst wollte Maike nicht mehr mit ihm schlafen. Dann wollte sie ihn nicht einmal mehr anfassen. Und als er anfing, ihr deshalb Fragen zu stellen, war sie schon so gut wie ausgezogen.
Drei Monate lang litt er wie ein Tier. Alles in der Wohnung erinnerteihn an die gemeinsame Zeit. Jeden Moment meinte er, Maike wieder hereinkommen zu hören. Alle seine Kleider schienen nach ihr zu riechen.
Dann rettete ihn seine Mutter. Ausgerechnet Gisela Wieland, die in dem Düsseldorfer Stadtrandviertel ihr Leben lang dafür gearbeitet hatte, die perfekte kleine Familie in ihrem perfekten kleinen Haushalt vorzuführen, wie Wieland es gerne
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