Schlechte Gesellschaft
viele im Werk dachten. Grien, den Irma sich dunkelhaarig vorstellte, mit narbiger, schmutziger Haut, musste den Herrn Direktor gestoÃen haben. Denn wie sonst hätte Vahlen zwischen die Köpfe der Hauptwalze geraten können? Und wer hatte den Mechanismus entriegelt? Nur Irma ahnte, dass ihr Mann vielleicht selbst den Hebel betätigt haben könnte.
»Ich habe gesagt, du sollst es lassen«, donnerte Vahlen, als er Irmas Blick noch immer auf seinem Körper spürte. »Was willst du?«
Irma fror. Sie wollte etwas sagen. Aber Vahlen war so wütend, dass sie stumm blieb.
Wieder zerrte er heftig am Bettpfosten, wand sich und hielt plötzlich einen der kleinen Jagdrevolver in der Hand, die er sonntags stundenlang zu säubern pflegte. Nur kurz schien er zu zögern, dann richtete er die Waffe auf seine Frau.
»Raus«, sagte er.
Sie rannte aus dem Zimmer. Beinahe fiel sie die Treppe herab, weil ihre Augen sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann hörte sie den Schuss.
Der Onkel kam für die Beerdigung auf. Er war aus Koblenz eingetroffen, um die Formalitäten zu regeln. Irma hatte nicht sofort verstanden, dass sie das Haus verlassen musste. Der alte Vahlen, der nun jede Nacht in ihr Zimmer kam, erklärte ihr alles. Er wollte dafür sorgen, dass Irma niemandem etwas schuldig blieb. Er kümmerte sich um die Verabschiedung der Angestellten, um den Verkauf der Wagen, der Pferde und des Schmucks. Etwas Wäsche, die Kleider und den Hund, der ja wohl ihr gehöre, könne sie mit sich nehmen. Er werde ihr fürs erste eine monatliche Summe zahlen, damit sie über die Runden kam, könne ihr auch eine kleine Wohnung in Koblenz besorgen. Selbstverständlich müsse sie sich diskret verhalten. Irma nickte nur stumm.
Am siebten Abend nach der Beerdigung Johann Georg Vahlens stand dessen Onkel im knielangen Nachthemd vor der verschlossenen Tür der jungen Witwe. Doch auch als Sebastian Gotthelf Vahlen härter zu klopfen begann, antwortete Irma nicht.
Am nächsten Morgen reiste der Onkel ab, und von der kleinen Wohnung und der monatlichen Summe wurde nie wieder gesprochen. Irma hatte eine Woche Zeit, bevor das Haus im Aulbachtal verkauft war. Der Notar fuhr sie mit ihren drei Koffern, einer Wäschetruhe und dem Hund in ihr nahegelegenes Heimatdorf, wo sie fürs erste in der Pfarrstube unterkommen konnte.
Dünn und sehr blass stieg sie am Kirchplatz aus dem Wagen des Notars. Ihre Schönheit war nun vor allem Eleganz, und in ihren Augen spiegelte sich eine so tiefe und gleichzeitig stolz wirkende Traurigkeit, dass kaum eine ihrer Schwestern von der Hüh es noch wagte, mit ihr zu sprechen. Die Bauernweiber tuschelten über die feine Garderobe der Witwe, über ihre Art, das Haar hochzustecken, und über ihre auf den matschigen Wegen von Sehlscheid unpassend hohen Absätze. Und obwohl sie ihr täglich in der Hohl und auf dem Weg zur Kirche begegneten, waren sie überzeugt, dass die Vahlen nicht vorhatte, tatsächlich in ihr Dorf zurückzukehren.
Der Lehrer Schütz war der einzige, der nur ein paar Worte mit Irma wechselte, wenn er sie im Oberdorf traf. Einmal besuchte er die junge Witwe sogar in der Pfarrstube, wie die Haushälterin des Pfarrers, das Fräulein Runkel, erzählte. Nachdenklich und schwer atmend verlieà er das Haus erst einige Zeit später. Lange glaubte man, als nächstes würde der Lehrer ihre Verlobung bekannt geben. Aber letztlich fühlten sich die Sehlscheider in ihrer Ahnung bestätigt, dass Irma hochmütig geworden war, denn offenbar hatte sie das gute Angebot des Lehrers abgelehnt.
Schon bei der Beerdigung ihrer Mutter zwei Monate später waren Irmas feine Absätze abgelaufen, ihre Kleider verdorben, das wenige Geld, das sie von den Bäuerinnen für ihre Wäsche bekommen hatte, aufgebraucht. Es war zu dieser Zeit, dass im Dorf Gerüchte aufkamen, die Witwe erhalte Herrenbesuch.
Die Haushälterin des Pfarrers bestätigte, dass die Besucher alle anständig gekleidet waren und offenbar aus der Stadt kamen. Einer der Herren habe angegeben, es gehe um Geldangelegenheiten des verstorbenen Johann Georg Vahlen. Man ging davon aus, die Witwe werde nun erben und ein Haus oder zumindest eine Wohnung in der Stadt beziehen. Aber das Fräulein Runkel vermutete, dass es sich eher um Schulden handele. In jedem Fall hätten die Herren ohne Ausnahme merkwürdig aufgewühlt
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