Schloss der Engel: Roman (German Edition)
Fenster und weigerte mich, darüber nachzudenken, wie mich meine neuen Mitschüler wohl aufnehmen würden.
Schneebedeckte Felder und endlose Wälder wechselten sich ab mit alten, winterkahlen Alleen. Die Gegend hier war genauso menschenleer wie die einsamen Berggipfel der Abruzzen, die ich am Morgen hinter mir gelassen hatte. Allerdings wirkte sie kühler und weniger einladend.
Es war schon nach Mitternacht, als wir endlich die Zufahrt zum Internat erreichten. Ein schwarzes, aus spitz zulaufenden Metallstäben gefertigtes Tor, das von einem schmiedeeisernen Bogen überspannt wurde, versperrte den Weg. Dahinter verlor sich eine dunkle Allee mit knorrigen Baumriesen im Nichts. Ich war froh, dass ich im Bus bleiben konnte, während der Fahrer das Tor öffnete.
Als sich der schmale Weg durch eine weitläufige Gartenanlage schlängelte, drosselte der Fahrer das Tempo, bevor er den Bus vor meiner neuen Schule zum Stehen brachte.
Majestätisch erhob sich das weiße Schloss gegen den dunkelgrauen Nachthimmel. Schmale Türmchen mit schneebepuderten Hauben, hervorspringende Erker, zusammengesetzt aus filigranen Sprossenfenstern, und Gauben, die das Mansardendach ebenso zahlreich durchlöcherten wie die Schornsteine, wetteiferten um Aufmerksamkeit mit kunstvoll gearbeiteten Wasserspeiern, stuckverzierten Giebeln und dem von Säulen getragenen Bogengang, der die steinerne Eingangstreppe flankierte.Zu allem Überfluss lag hinter dem Schloss ein von einer dünnen Eisschicht überzogener See: ein Wintertraum – Märchenschloss inklusive!
Ich atmete noch einmal tief durch – bei all der Schönheit –, um mir Mut zu machen. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Hoffentlich waren die Zimmer nicht ganz so museumsmäßig eingerichtet.
Eine verschlafen wirkende Frau, Anfang fünfzig, mit braunem Kräuselhaar, das wirr ihr rundes Gesicht umspielte, nahm mich in Empfang.
»Willkommen in Torgelow, Linde. Hattest du eine gute Anreise?«
»Ja, danke. Die hatte ich«, antwortete ich höflich. Linde – natürlich!
»Schön, dann zeig ich dir mal dein Zimmer, bevor du hier draußen noch erfrierst. Ich hoffe, du hast genügend warme Sachen zum Anziehen dabei. Deine Kisten aus Italien sind nämlich noch nicht eingetroffen. Ich bin übrigens Frau Schlatter.«
»Und mich nennen alle nur Lynn«, erklärte ich schnell, bevor Frau Schlatter auf die schwere Eichenholztür des Schlosses zusteuerte und mich mit einer einladenden Geste aufforderte, einzutreten.
Mit seinem großen, schwarz-weiß verkleideten Marmorkamin – sicher eine hervorragende Stelle für kitschige Familienbilder –, dem dazu passenden Mosaikfußboden und einer elegant geschwungenen Treppe stand das Foyer dem äußeren Prunk des Schlosses in nichts nach. Bestimmt gab es auch einen Ballsaal – mit Spiegeln, wie in Versailles.
Irgendwie fühlte ich mich fehl am Platz ohne Armani-Jeans und Prada-Täschchen, die ich nun mal nicht besaß.
»Während der Ferien wird in den anderen Gebäuden ein wenig renoviert. Bis dein Raum im Gelben Haus fertig ist unddu umziehen kannst, bekommst du erst mal ein Zimmer im Schloss – ein Einzelzimmer unterm Dach«, betonte Frau Schlatter ehrfürchtig und bugsierte mich die Treppe hinauf.
Ob Schloss oder nicht, war mir im Moment ziemlich egal. Ich war müde von der langen Anreise und wollte nur eins: schlafen und nicht allzu viel über meine Zukunft nachdenken.
Ganz oben, im dritten Stock, steuerte Frau Schlatter auf eine einsame Holztür zu und kramte einen alten Messingschlüssel hervor.
»So, da sind wir. Vielleicht musst du noch ein bisschen lüften. Das ist eigentlich ein Gästezimmer und wird nur selten benutzt.« Sie öffnete die Tür und ließ mich ein, bevor sie sich mit einem flüchtigen Lächeln verabschiedete.
Ich versuchte flach zu atmen – mit dem Lüften hatte sie definitiv recht! Doch der Rest war besser, als ich erwartet hatte: ein weiß gestrichener Schrank mit Schnitzereien und einem dazu passenden Regal, in dem sich ein paar angestaubte Bücher stapelten, stand neben dem Schreibtisch mit einem – natürlich – royalblau gepolsterten Stuhl, der zu dem flauschigen Teppichboden passte. Das Schönste jedoch war das breite Bett, auf dessen meerblauem Bezug mindestens zehn weiße spitzenverzierte Kissen aller Form und Größe lagen, und – es stand direkt unter einem der beiden Dachfenster.
Ich kramte mein Waschzeug und einen Schlafanzug aus dem Reiserucksack, schob das Verdunkelungsrollo über meinem Bett nach
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