Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
nach Deutschland kam? Wie mögen ihm das kühle, fremde Wetter, die feuchte, fremde Luft vorgekommen sein, wie diese fremden Menschen und ihre fremde Sprache? Ich weiß es nicht, denn er hat mit mir nie über diese erste Zeit in Deutschland gesprochen – umso öfter hat er mir von seiner Kindheit in der Türkei erzählt, von seiner Jugend, seiner Schulzeit. Es war immer klar, dass er eines Tages dorthin zurück-, dort wieder leben wollte. Ganz allein war er jedoch nicht, als er hier eintraf. Viele Leute aus seiner Gegend waren schon vor ihm nach Deutschland gezogen. Freunde und Verwandte, Bekannte aus der Region Isparta, Menschen aus Salur. Sie teilten eine Vergangenheit, sie teilten Erinnerungen.
Nach Deutschland zu gehen bedeutete für einen Mann wie meinen Vater, der in kargen Verhältnissen aufgewachsen war, neue Chancen und Perspektiven, eine Aussicht auf Wohlstand, die er zu Hause nie gehabt hätte. Deutschland war für ihn ein Sehnsuchtsort, an dem er ein besseres Leben aufbauen konnte. Im Grunde aber hat ihn die Liebe nach Deutschland geführt. Es mag überraschen, aber den Ausschlag für seine Umsiedlung gab letztlich, dass er hier endlich mit meiner Mutter, Adile Simsek, geborene Bas, zusammenleben konnte. Er war damals schon sieben Jahre mit ihr verheiratet, und doch lebten beide getrennt. Das wirkt seltsam, war aber für ihre Verhältnisse kein ungewöhnliches Schicksal. Mein Vater und meine Mutter waren beide in Salur aufgewachsen, sie kannten sich seit ihrer Kinderzeit und hatten die gleiche Schule besucht. Aber dann zog der Vater meiner Mutter als Gastarbeiter nach Deutschland, seine zwei Söhne und seine Tochter nahm er mit. Seine Frau und der älteste Sohn blieben zu Hause, schließlich stand fest, dass der Vater nach ein paar Jahren wieder zurückgehen würde, und tatsächlich ist mein Großvater später heimgekehrt. Als meine Mutter nach Deutschland ging, waren meine Eltern schon ein Paar. Sie haben sich Briefe geschrieben und haben sich immer gesehen, wenn meine Mutter ihre Ferien in Salur verbrachte. Später haben meine Eltern dann auch in der Türkei geheiratet. Das war 1978.
Nach ihrer Heirat lebten die beiden allerdings zunächst weiterhin getrennt: meine Mutter in Deutschland, mein Vater in der Türkei, wo er noch den Militärdienst absolvieren musste. So hatten sie einfach nicht die Möglichkeit, ein gemeinsames Leben aufzubauen, eine Familie zu gründen, und mussten über Jahre hinweg eine Fernbeziehung führen. Damit so etwas funktioniert, braucht es viel Grundvertrauen. Und entweder wächst dieses Vertrauen im Lauf der Jahre, oder man trennt sich früher oder später. Bei meinen Eltern wuchs es die ganze Zeit, und deshalb bestand später zwischen ihnen auch eine außergewöhnliche Nähe. Sie haben sich blind vertraut.
Von 1980 bis 1982 diente mein Vater bei der Armee in Ankara, in diesen Jahren haben sie sich kaum gesehen. Aber er hat ihr viele Gedichte geschrieben, häufig auf die Rückseiten von Fotos, die seine Kameraden von ihm gemacht haben. Auf einer dieser Aufnahmen liegt er in Uniform auf einer Wiese, die Rückseite des Bildes hat er ganz eng in seiner schönen Handschrift beschrieben. Es ist nicht leicht, diesen Text auf Deutsch wiederzugeben, denn die türkische Sprache funktioniert ganz anders als die deutsche, sie ist viel blumiger und poetischer. Es gibt in Deutschland viele merkwürdige, falsche Vorstellungen davon, wie türkische Männer angeblich mit Frauen umgehen. Deshalb übersetze ich hier diese Zeilen, die mein Vater als türkischer Soldat für seine Frau gedichtet hat:
Mein Herz ist schwer. Ich habe den Wunsch, dich zu sehen. Wenn ich Leuten begegne, die dich gesehen haben, dann will ich sie immer wieder fragen, wie es dir geht. Ich träume von dir. Ich bin so weit von dir entfernt, aber ich fühle dich immer in mir. Alle Leute, die mich mögen, sollen dieses Bild gut aufbewahren, es ist ein Erinnerungsstück von mir für euch: Wenn ihr an mich denken wollt, dann schaut euch die Bilder von mir an und seid nicht traurig, dass ich nicht da bin.
Dieses Gedicht und einen ganzen Packen weiterer Liebesbriefe habe ich erst vor fünf Jahren entdeckt. Ich war in der Türkei und ging seit langem wieder in das Haus, das mein Vater in seinem Heimatdorf gebaut hatte, seit seinem Tod hatte ich es nicht mehr betreten. In einem Zimmer stand die Brautkiste meiner Mutter, in der sie nach türkischer Tradition ihre persönlichen Sachen aufbewahrte. Ich habe hineingesehen, und es
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