Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
südlich von Fulda, und in der Katharinenstraße gab es vier oder fünf Mehrfamilienhäuser, kleine Wohnblocks, Sozialbauten. Dort verbrachte ich meine Kindheit, sorglos und unbeschwert. Meine ältesten Erinnerungen drehen sich um den gemeinsamen Garten hinter den Häusern. Eigentlich war es einfach eine große Wiese, auf der sich kreuz und quer die Wäscheleinen spannten, und gleich auf der anderen Seite des Gartenzauns war ein Spielplatz. Irgendwer hatte mal ein Loch in den Zaun geschnitten, durch das wir zu den Schaukeln und Rutschen hinüberkrabbeln konnten. Als wir noch klein waren, ist meine Mutter immer auf den Spielplatz mitgekommen und saß dort mit den anderen Frauen. Sie hatten Kaffee in Thermoskannen dabei, meistens hatte irgendwer Kuchen gebacken, und dann machten sie einen Kaffeeklatsch auf der Wiese. In der Katharinenstraße haben Menschen der verschiedensten Nationalitäten gelebt, Italiener, Türken, Deutsche, in denselben Häusern, mit dem einen Garten, und das hat reibungslos funktioniert.
Ich hatte sogar eine italienische Oma. Seit ihr Mann gestorben war, lebte sie allein, nur ein paar Meter von uns, und ich ging oft zu ihr hinüber. Nicht etwa, weil ich Mitleid hatte – dass sie wahrscheinlich einsam war, das verstand ich damals nicht. Ich erinnere mich nicht mehr, wie ich sie kennenlernte, aber ich habe ihre Zuneigung gefühlt und mochte sie sofort. An meinen Geburtstagen hat sie mir Amerikaner gebacken, und oft hat sie mich in den Supermarkt mitgenommen oder mir etwas mitgebracht. Ihren Namen weiß ich nicht mehr, ich habe sie einfach immer Oma genannt. Als Kinder haben wir nicht darüber nachgedacht, ob ein anderes Kind deutsch, italienisch oder türkisch war, wir haben uns ja gekannt. Das war unsere gemeinsame Welt, und wir ahnten gar nicht, dass irgendeine Familie von woanders herkommen konnte. Woanders – wo sollte das sein? Kinder beschnuppern sich, reden mit jedem und schließen schnell Freundschaften. Ich hatte pakistanische Freunde und eine deutsche Freundin, sie lebte nicht weit von uns auf einem Bauernhof. Manchmal hat sie nach Stall gerochen, weil sie zu Hause immer mithalf, aber das war ganz normal und hat niemand von uns gestört. Wir gingen ja auch selbst mit ihr in den Stall, schauten uns um, packten mit an, fütterten die Kühe und ärgerten die Schweine, und danach haben wir selber gerochen.
Die Häuser waren nicht groß, in jedem Mehrfamilienhaus lebten sechs Parteien. Meine Eltern, mein Bruder Abdulkerim und ich haben in der ersten Etage gewohnt, drei Zimmer, Bad, Küche und ein schmaler Flur, und wer unsere Wohnung sah, wäre nicht auf die Idee gekommen, dass hier eine türkische Familie zu Hause war. Das Wohnzimmer war in Braun gehalten, eine hellbraune Couch, ein großer Esstisch auf Rollen und die übliche Schrankwand samt Fernseher in der Mitte. Im Regal darüber standen die Bücher meiner Mutter, eine ganze Reihe Romane, Liebesromane vor allem. Und ihre Gebetbücher. Die sahen aus wie andere Bücher auch, nur die Schrift war türkisch. Kurz, man fühlte sich wie in jedem deutschen Wohnzimmer, mit Polstersesseln und einer Schrankwand von Möbel Höffner. Unser Kinderzimmer war einfach eingerichtet, ein Schrank, ein Schreibtisch für die Hausaufgaben, und das Tollste war das Stockbett, das Kerim und ich bekamen, als wir alt genug waren, um hochzuklettern. Ich liebte dieses Bett von Anfang an, wollte unbedingt oben schlafen und habe mich auch durchgesetzt. Allerdings ist meine Begeisterung schnell abgekühlt. Wir hatten nämlich vereinbart, dass jeden Abend abwechselnd einer von uns beiden das Licht ausknipste. Also musste ich jeden zweiten Tag, wenn ich schon gemütlich unter der warmen Decke lag, wieder aus dem Bett heraus und die kalten Sprossen hinunterklettern … Ich habe Kerim dann bald davon überzeugt, dass es oben viel schöner sei, und ihm schwesterlich den besseren Platz überlassen.
Die Wohnung war nicht groß, aber ich habe sie nie als eng empfunden, und wir waren sowieso fast jeden Nachmittag mit den anderen Kindern draußen. Wann wir wollten, liefen wir in den Garten, auf die Wiese und auf den Spielplatz, wir konnten auch auf der Straße herumtoben, Verkehr gab es damals wenig. An den Wochenenden hat sich die ganze Straße auf dem Spielplatz eingefunden: Erwachsene und Kinder, Väter und Mütter, Deutsche, Italiener, Türken und was für Landsleute sonst noch in der Straße gewohnt haben. Die Straße war wie ein kleines Dorf, ganz Flieden kam mir
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