Hannas Entscheidung
1 Berlin
D er Himmel war von grauen Wolken verhangen. Es regnete in Strömen. Marie starrte auf den marmornen Engel, dessen Arme schützend um den Grabstein lagen, seine Gesichtszüge so ebenmäßig, sein Mund sanft lächelnd. Das Regenwasser floss von seinem Gesicht auf den feinen, hellen Kies, der das Grab bedeckte. Eine weiße Rose lag darauf. Den Regenschirm über sich haltend, ging sie in die Hocke, streckte die Hand aus und malte mit dem Zeigefinger die Buchstaben des Grabsteins nach: Johanna Rosenbaum, geboren am 11.05.1983, gestorben am 02.07.2012. Sie wechselte auf den zweiten Namen: Gabriel Rosenbaum, geboren am 03.03.1948, gestorben am 02.07.1992. Wie seltsam, in all dem Trubel, in all der Aufregung nahm sie erst heute wahr, dass ihr Vater und ihre Zwillingsschwester am gleichen Tag gestorben waren. Im Tod miteinander vereint. Marie stand auf, wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie kramte in ihrer Manteltasche nach einem Papiertaschentuch. Doch alles, was sie fand, war genauso feucht wie ihr Gesicht. Den Regen schien es nicht zu interessieren, dass sie einen Regenschirm über ihren Kopf gespannt hatte. Überall wehte der Wind das Wasser an ihren Körper. Durchweichte den Mantel und das darunterliegende Kostüm.
Vor ihrem Gesicht tauchte eine schmale, schlanke Hand auf, die ein sauber gefaltetes Stofftaschentuch hielt. Sie gehörte einem Mann, der ihr nur bis zum Kinn reichte.
»Bitte nehmen Sie, bevor auch das Taschentuch ein Opfer der Elemente wird.«
Er sah sie freundlich an, auch der Regen schien ihm nichts auszumachen. Zögernd streckte Marie die Hand aus und nahm das Taschentuch entgegen. Sie wischte sich zuerst das Gesicht trocken, bevor sie sich die triefende Nase damit putzte, steckte es ein und lächelte den Mann vor sich schief an. »Ich werde Ihnen das Taschentuch selbstverständlich ersetzen.«
»Das brauchen Sie nicht, Frau Benner. Es heißt doch noch Benner?«
In jeder Zeitung hatte gestanden, dass sie nach der Verhaftung ihres Mannes die Scheidung eingereicht hatte. Das würde sie ein kleines Vermögen kosten, doch es war ihr egal. Keinen Tag länger wollte sie den Namen des Mörders ihrer Schwester tragen. Und nicht nur deren Tod hatte er auf dem Gewissen. Es überraschte sie nicht, dass der Mann vor ihr diese Frage stellte. Am liebsten hätte sie den Namen bereits abgelegt, doch die deutsche Bürokratie ging ihren normalen Gang und nahm keine Rücksicht auf Gefühle.
»Wieso hier?«
Der Mann zog seine Hand, die hinter seinem Rücken verborgen gewesen war, hervor. Er hob eine dunkelrote Rose an seine Nase, nahm einen tiefen Atemzug. Er bückte sich und legte seine Rose neben ihre Weiße. Er erhob sich und sah sie aufmerksam an.
»Interessant, nicht wahr, dass Ihr Vater und Ihre Schwester den gleichen Todestag haben, nur mit zwanzig Jahren dazwischen.«
»Sie sagten, es wäre dringend.«
»Das ist es in der Tat. Wussten Sie, dass ich Ihren Vater kannte?«
»Ist das nicht normal, wenn man derselben Wirtschaftsorganisation angehört, die sich regelmäßig viermal im Jahr trifft?«
Er lachte, schüttelte amüsiert den Kopf, bevor der Ausdruck in seinem Gesicht sich änderte. »Ich meine nicht Ihren Stiefvater, sondern Ihren biologischen Vater, Gabriel Rosenbaum. Ein interessanter Mann, wenn Sie mich fragen.«
Ein kalter Schauer lief Marie über den Rücken. Sie zitterte unwillkürlich und wusste nicht, ob es dem Regen geschuldet war, der langsam ihre Sachen durchweichte, oder dem kalten Ausdruck in den Augen ihres Gegenübers.
»Die Eltern Ihres Vaters gehörten zu den wenigen Juden, die das Nazireich überlebten. Wussten Sie das?«
»Mein Großvater war Jude, meine Großmutter Katholikin.«
»Oh ja, sie heiratete ihn und beschützte ihn so vor dem Konzentrationslager. Eine überaus mutige Frau. Im Gegensatz zu Ihrem Großvater, der für sein Überleben seinen Glauben und sein Volk verraten hat.«
»Sie sagten, es ginge um Medicare, nicht um die Vergangenheit meiner Familie.«
»Stimmt. Doch es ist mir immer wichtig zu wissen, von wem ein Mensch abstammt, bevor ich Geschäfte mit ihm mache. Sehen Sie, Frau Benner, Sie erfahren viel über eine Person, sobald Sie ihre Familie anschauen. Ihre Schwester ist eine Frau, die viel Leid ertragen kann, ohne daran zu zerbrechen. Wie sieht das bei Ihnen aus?«
»War. – Sie war eine Frau, die Leid ertragen konnte«, flüsterte Marie.
»Oh ja, hoffen wir, dass sie in Frieden ruht, nicht wahr? Oder glauben Sie an die
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