Schmetterlingsschatten
Elena ihr Haus von außen sah, hatte sie den Eindruck, vor einem Gespensterhaus zu stehen. Sie konnte sich selbst nicht erklären, woran das eigentlich lag. Die bunten Blumen im Vorgarten leuchteten immer einen Tick zu grell, die säuberlich geschnittene Hecke und die frisch gestrichenen Treppengeländer wirkten, als wollten sie von einem düsteren Geheimnis ablenken.
Drinnen war es nicht viel besser. Die freundlichen Farben der neuen Tapete nahm sie gar nicht wahr. Die makellos gewischten Fliesen und die beinahe schon übertriebene Ordnung unterstrichen nur, dass eigentlich gar nichts in Ordnung war. Und egal, wie laut ihre Mutter das Radio drehte, Elena kam das Haus immer zu still vor, ohne Laura.
»Wo bist du gewesen? Ich hab mir solche Sorgen gemacht.« Die Stimme ihrer Mutter schallte Elena entgegen, sobald sie die Tür aufgeschlossen hatte. Immer dieselbe Frage. Immer derselbe Tonfall – weinerlich, ängstlich. Ihre Mutter stand in dem dämmerigen Flur, hoch aufgeschossen wie Elena selbst, in einem adretten cremefarbenen Kostüm, das geradewegs einer Modezeitschrift entsprungen zu sein schien. Sie konnte noch nicht lange von der Arbeit wieder zu Hause sein. Sie wirkte nervös. Vielleicht hatte sie von dem toten Mädchen gehört.
Elena hob die Schultern. Was sollte sie auch sagen, sie war nicht länger weggeblieben als sonst.
»Ich finde es nicht gut, wenn du so spät nach Hause kommst.« Schon wieder. Warum ist sie nur so? Sie weiß doch, dass ich vorsichtig bin. Mir ist noch nie was passiert.
Sie spürte den Ärger in sich aufsteigen und schluckte ihn gleich darauf wieder herunter. Sie ging die wenigen Schritte zu ihrer Mutter hin, beugte sich vor und küsste sie sanft auf die Wange.
»Du brauchst dir keine Sorgen machen, Mama, mir passiert nichts.«
Ihre Mutter sah nicht beruhigt aus, aber sie lächelte müde. Das Gespräch war vorbei. Jetzt würde Elena erst mal ihren Frieden haben, während die Mutter das Mittagessen kochte.
»Ich geh dann mal hoch.« Elena wandte sich ab und stürmte die Stufen hoch, bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte. Nur weg von hier. Sie konnte den traurigen Blick ihrer Mutter nicht ertragen.
Elena ließ ihre Zimmertür hinter sich ins Schloss fallen und warf sich der Länge nach auf ihr Bett. Für einen Moment schloss sie die Augen und atmete tief durch. In letzter Zeit machte es sie immer wütend, mit ihrer Mutter zu sprechen. Wütend und traurig und hilflos. Früher hatte es wenigstens Laura gegeben, die ihr gegen die Ängste ihrer Mutter beistand, aber seit ihrem Tod war alles noch schlimmer geworden.
Elena spürte, wie ihre Augen zu brennen begannen, und schlug sie rasch wieder auf. Jetzt nicht weinen!, wies sie sich zurecht.Es war schlimm genug, dass Mama immer losheulte, wenn es um Laura ging. Elena starrte die Wand an und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Ihr Blick glitt ziellos über die Fotos, die sie mit Reißzwecken über ihrem Bett befestigt hatte. Laura und sie vor einem Termitenhügel. Savanne, durchbrochen von Schirmakazien. Zebras. Ein Safari-Jeep.
Es half. Afrika half immer. Deswegen hatte Elena die Fotos überhaupt aufgehängt. Früher hatte es andere gegeben, Bilder von zu Hause, Mama und Papa, dem Schlittenhang im Wald, der Schulaufführung. Nachdem Laura fort war, hatte Elena die Fotos abgenommen und ihre Afrikabilder aufgehängt. Immer, wenn sie eigentlich weit fort sein wollte, sah sie sich die Aufnahmen an. Manchmal brauchte sie sie nur zu berühren, um davonzufliegen, in den Himmel hinauf und in die Savanne hinab. Dann war sie eine Forscherin, eine Fotografin, eine Tierpflegerin. Nur nicht Elena, Lauras Schwester, weil es Laura nicht mehr gab.
Das Telefon klingelte und holte Elena aus Afrika zurück. Zuerst blieb sie liegen und ließ es klingeln. Sollte Mama drangehen. Sie hatte keine Lust. Doch der Anrufer gab nicht auf. Wieder und wieder läutete es. Ihre Mutter ignorierte es.
Entnervt stieg Elena aus dem Bett, öffnete die Zimmertür und stapfte zu dem Apparat im oberen Flur.
»Elena Henn, hallo?«
Schweigen. Sie konnte jemanden atmen hören, ganz leise nur, aber unverkennbar.
»Hallo?«, wiederholte sie.
Immer noch Stille. Nur das leise Atemgeräusch. In ihrem Bauch breitete sich ein mulmiges Gefühl aus wie zähflüssiger Honig. Sie hatte von solchen Anrufern gehört, Gestörte, die ihre Zeit damit verbringen, junge Mädchen zu belästigen. Zumindest hatte ihre Mutter das gesagt. Doch nie hatte Elena gedacht, dass ihr das
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