Schmetterlingsschatten
Kapitel 1
Samstag, 15. Juli 2005
Heute habe ich einen Menschen getötet. Ich weiß immer noch nicht genau, was eigentlich passiert ist. Meine Hände zittern, wenn ich daran denke, und ich kann mein Herz beinahe hören, so schnell schlägt es. Mir ist kalt, und schlecht ist mir auch, aber vielleicht kommt das auch vom Wodka. Immer wieder taucht dieses Bild vor meinen Augen auf: der Körper, voller Blut, das so seltsam unwirklich aussieht, wie Holundersirup. Ich wusste nicht, dass Blut so aussehen kann. Ich wusste nicht, dass ein Mensch so viel Blut in sich hat.
Ich kann nicht weiter, ich muss es beenden. Ich habe nur Angst, dass es jetzt schon zu spät ist.
»Hast du’s schon gehört?« Vivienne kam ihr entgegengerannt, kaum dass Elena den Fuß auf den Schulhof gesetzt hatte. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine Aufregung, wie Elena sie gar nicht an ihrer besten Freundin kannte. Nina folgte ihr, etwas langsamer, aber offensichtlich nicht weniger aufgeregt.
»Was gehört?«, fragte Elena, als Viv außer Atem innehielt, verlagerte ihren Rucksack von der rechten auf die linke Schulter und versuchte, nicht allzu neugierig zu wirken.
»Sie haben eine Leiche gefunden, drüben im Wald zwischen Frankenach und Lensberg, bei der Landstraße. Ein Förster ist drübergestolpert.« Vivienne sprach hastig, als hinge ihr Leben davon ab, Elena von dem Fund zu berichten. Ihre Wangen färbten sich rötlich und ihre Augen glänzten, ihre Haare waren mal wieder ein einziges Chaos aus blonden Löckchen. Ärgerlich fuhr sie mit der Hand hindurch und machte es damit nur noch schlimmer.
»Weiß man, wer es ist?« Sie bemühte sich, ihre Stimme möglichst ruhig und milde interessiert klingen zu lassen. Als wäre sie gar nicht auf die Idee gekommen, als hätte die Landstraße keinerlei Bedeutung für sie. Ich werde nicht weinen. Ich komme klar!
Nina, die sich inzwischen zu ihnen gesellt hatte, zuckte mit den Schultern. »Niemand von hier.« Sie strich sich eine lange braune Strähne aus dem Gesicht und musterte Elena neugierig von unten herauf. »Ein fremdes Mädchen. Es heißt, sie ist überfahren worden. Vielleicht ein Unfall. Sag mal, ist das nicht genau wie…« Elena wandte sich halb ab und Nina verstummte abrupt.
Elena starrte an den anderen beiden vorbei das Schulhaus an. Der graue, unfreundliche Betonklotz erschien ihr noch weniger einladend als sonst. Selbst das jetzt schon gleißende Sonnenlicht konnte daran nichts ändern. Hinter den Fenstern schien sich nur dunkles Nichts zu verbergen. Elena biss sich auf die Unterlippe, um die Tränen zurückzuhalten, die in ihre Augen drängten. Rasch sah sie wieder zu den anderen.
Viv kaute verlegen an einer ihrer Ringellocken, Nina hatte ihren hellrosa Blümchenrucksack abgesetzt und wühlte konzentriert darin herum, als sei dies das Wichtigste auf der Welt. Als sie bemerkte, dass Elena hersah, blickte sie auf und zwinkerte verlegen.
»Es war bestimmt ein Unfall«, versicherte sie.
»Unsinn«, mischte sich unvermittelt jemand hinter ihr in das Gespräch ein. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer es war. Die Stimme kannte sie zu gut. Timo, ihr selbst ernannter Retter in allen Lebenslagen. Sie lächelte flüchtig, als er neben sie trat und sie freundschaftlich in die Seite boxte. Timo mochte oft kindisch sein, aber er verstand sie manchmal besser als jeder andere.
»Diese Leiche hier war verscharrt, die hat jemand versteckt. Das war kein einfacher Verkehrsunfall.« Er machte eine dramatische Pause und blickte in die Runde, wie um sich zu versichern, dass er die Aufmerksamkeit aller Anwesenden hatte. »Das war Mord.«
Er hatte sein Ziel erreicht. Nina schnappte angemessen beeindruckt nach Luft und Elena zuckte zusammen. Vivienne machte ein kritisches Gesicht, hängte die Daumen in die Gürtelschlaufen ihrer Jeansshorts und wippte auf den Füßen hin und her. »Bullshit, Timo, willst du damit sagen, hier läuft ein Mörder frei herum?«
Timo hob die Schultern, grinste schief und schob mit dem Zeigefinger seine Brille die Nase hoch. »Ich sage nur, was Sache ist. Die Leiche wurde versteckt. Hat mir mein Vater erzählt.«
Vivienne verdrehte leicht die Augen und zwinkerte Elena zu. Timo ließ keine Gelegenheit aus, mit seinem Polizisten-Vater anzugeben.
Nina dagegen war leichter zu beeindrucken. Sie sah sich mit einem ängstlichen Ausdruck in den Augen um, als würde der Mörder gleich hinter dem nächsten Busch hervorspringen. Timo jedoch blickte auf Elena und schien
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