Schnappschuss
Aluminiumschuppen. Die Dienst habende Rechtsmedizinerin Freya Berg kniete neben der Leiche. Challis konnte McQuarrie nirgendwo entdecken.
Dann ging er die Einfahrt hinunter, und der Detective aus Rosebud, ein Mann mit schiefer Nase und verknittertem grauen Anzug begleitete ihn. »Wo ist der Superintendent?«
»Hat das Kind mit nach Hause genommen.«
»Verdammt«, entfuhr es Challis. Einerseits wusste er, dass das Kind nun Zuspruch brauchte; andererseits wollte er gern ihre Version der Geschichte hören, bevor sie sie zu vielen anderen erzählt hatte. McQuarrie war ein erfahrener Polizeibeamter, aber er war auch der Großvater des Kindes. Bestimmt wollte er sie schützen, bestimmt wollte er ihr Fragen stellen, und womöglich redete er ihr ein, was sie angeblich gesehen hatte.
»Sir?«, fragte der Detective.
Challis lächelte den Mann an. Er wollte nicht, dass der andere glaubte, er würde die Gefühle des trauernden Kindes mit Füßen treten. »Ich hatte gehofft, ihn hier zu erwischen.«
»Er möchte Sie am späten Vormittag bei sich zu Hause sprechen.«
Ach herrje, dachte Challis und sah auf die Uhr. Er musste sofort mit McQuarries Enkelin sprechen, nicht später. Er begrüßte ein paar Bekannte von der Spurensicherung und schnauzte dann scharf einen uniformierten Constable an, der sich einen Kaugummi in den Mund geschoben hatte und das zusammengeknüllte Papier unter einen Strauch warf. Der DC aus Rosebud eilte dorthin und bellte: »Sie Idiot, und wenn wir das nun als Beweisstück mitgenommen hätten? Heben Sie das auf.«
Als er zurückkehrte, fragte ihn Challis: »Hat das Kind irgendetwas gesagt?«
»Das Kind heißt Georgia«, antwortete der Detective mit leichtem Tadel in der Stimme. »Sie sagte, es seien zwei Männer in einem alten weißen Auto mit einer gelben Tür gewesen. Der eine habe ihre Mutter erschossen, der andere sei im Wagen sitzen geblieben.«
»Und was haben die beiden hier gemacht? Warum war Georgia nicht in der Schule?«
Es war klamm, der morgendliche Nebel vom Meer reichte bis weit ins Inland. Der DC versuchte, sich noch tiefer in seinen Mantel zu ducken, sein Gesicht war vor Kälte schon ganz rosig, und sein kahl werdender Kopf gab viel Wärme an die Luft ab. »Es ist Lehrplanbesprechung, also schulfrei, deshalb verbrachte sie den Tag mit ihrer Mutter. Ich konnte nicht viel mehr aus ihr herausbekommen, wollte sie auch nicht drängen. Sie wollte sowieso erst mit mir reden, als die Uniformierten ihr bestätigten, dass ich Polizist bin. Und dann tauchte McQuarrie auf.«
Ich nehme lieber Ellen Destry mit zu der Befragung, dachte Challis. »Und sie hat vom Handy ihrer Mutter aus den Notruf angerufen?«
»Ja. Das Handy haben wir im Wagen gefunden«, sagte der Beamte.
»Und warum hat ihr Vater sie nicht abgeholt?«
Der Beamte sah in seine Notizen. »Robert McQuarrie … wohnt mit dem Opfer und ihrer gemeinsamen Tochter in Mount Eliza … ist heute geschäftlich in Sydney. Ist auf dem Heimflug.«
»Also war er nicht der Täter.«
»Er hätte jemanden anheuern können.«
»Auch wieder wahr.«
Die Statistik besagte, dass neun von zehn Gewaltverbrechen – Mord, Totschlag – von jemandem begangen werden, den das Opfer kannte, und in fünf von zehn Fällen von einem Angehörigen ersten Grades. Challis setzte bei seinen Untersuchungen stets dort an. »Mein herzliches Beileid«, sagte er zu dem Mann eines Mordopfers, gleichzeitig aber betrachtete er ihn eingehend und suchte nach allem, was dessen Gesicht und Augen in diesem Augenblick verrieten, und nach allem, wodurch er dessen intimes Leben enthüllen konnte – Kontoauszüge, Briefe, Kreditkartenabrechnungen. Gelegentlich hatte er sogar schon mit sanfter Stimme zu Ehemännern, Frauen, Liebhabern, Freundinnen gesagt: »Verzeihen Sie mir, aber Sie sind mein Hauptverdächtiger. Ich kann erst andernorts suchen, wenn ich Sie von der Liste der Verdächtigen streichen kann.«
Challis sah zu dem kleinen Haus hinüber. »Ist jemand zu Hause?«
»Nein.«
»Wissen wir, wer dort wohnt?«
Der DC sah wieder in seine Notizen. »Eine Frau namens Joy Humphreys, so die Streife.«
»Hat Georgia gesagt, warum sie hierher gefahren sind?«
»Nein, nur dass sie heute keine Schule hatte und die Kinderbetreuung ausgefallen ist, deshalb hat sie den Tag mit ihrer Mutter verbracht.«
»Wissen wir, was die Mutter macht?«
»Das hier habe ich in ihrer Brieftasche gefunden.«
Eine kleine geprägte Visitenkarte, darauf fett der Name Janine McQuarrie, darunter
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