Schnappschuss
Vormittag im Gericht zu tun. Ein weiterer DC war auf einem einwöchigen Intensivkurs in der City, und der vierte war im Urlaub. Challis’ Tag sollte heute wohl ruhig werden.
Challis’ Arbeitsbereich war ein abgetrenntes Kämmerchen in einer Ecke des Großraumbüros, von wo aus er einen wenig berauschenden Blick auf den Parkplatz hinter dem Gebäude hatte. Dort ließ er das Paket zu Boden plumpsen, schaltete den Dienstcomputer ein und schaute nach seiner E-Mail. Es gab nur eine Nachricht von Superintendent McQuarrie, der ihn darum bat, einen Bericht über die regionale Polizeiarbeit zu verfassen. Challis, in dessen Hirn leise Wut brannte, druckte die E-Mail aus und versuchte, in den Anweisungen einen Sinn zu entdecken. Gab es denn überhaupt einen erkennbaren Unterschied zwischen »Auftrag«, »Ergebnisorientierung« und »Zielsetzung«? Und was war aus der Polizeiarbeit geworden? Nur Wörter, Wörter ohne Bedeutung.
Challis hatte jetzt schon die Schnauze voll. Er kochte sich einen Kaffee und streckte die Hand nach dem staubigen Radio aus, das auf dem Regal voller Gesetzestexte, Polizeihandbücher und verschlissener Aktendeckel stand. Als die Neun-Uhr-Nachrichten im Hintergrund murmelten, schaltete Challis seinen Laptop ein, zog die Notizen aus der Tasche und brütete über dem Bericht für den Coroner, in dem es um den Schusswaffengebrauch bei der Navy ging.
Aber eigentlich schob er nur das Unausweichliche vor sich her. Er hob das Paket vom Boden, riss das Papier ab und fand darin eine zugeklebte Pappschachtel mit einer kurzen Mitteilung, die auf dem Deckel klebte.
Liebster Hal,
diese Sachen von Angie sind vor ein paar Tagen bei uns eingetroffen. Offenbar sind sie im Gefängnis aufbewahrt und dort vergessen worden. Wir glauben, dass du die Sachen haben solltest. Verfahre damit nach deinem Gutdünken. Pass auf dich auf, lieber Hal. Wir denken oft an dich.
Alles Liebe,
Bob und Marg
Challis öffnete den Deckel und besah sich die traurigen Reste aus dem Leben seiner Frau: Taschenbücher, eine Bürste mit Kamm, Make-up, ein Taschenfotoalbum, eine Armbanduhr, die Kleidung, die sie bei ihrer Verhaftung getragen hatte. Er schluckte und wollte weinen. Als die Gewohnheiten und Anforderungen seines Alltags sich wieder meldeten, stopfte er die Schachtel samt Inhalt in den Papierkorb.
Es war noch zu früh, um zu erkennen, ob diese Geste etwas zu bedeuten hatte.
Challis wandte sich wieder seinem Bericht zu. Das Telefon klingelte. Superintendent McQuarrie war am anderen Ende, aber nicht der elegante Golfer und Arschkriecher der Handelskammer, sondern ein gebrochener Mann.
4
Dem DC zufolge, der Challis am Tatort des Mordes erwartete, hatte die Notrufzentrale den Fall an die Polizei von Rosebud abgegeben. Dort hatte man angenommen, dass es sich um einen üblen Scherz handelte, um ein Kind, das mit dem Handy der Mutter herumspielte, und schließlich zwei Uniformierte in einem Streifenwagen hingeschickt. Die Polizisten hatten einen kurzen Blick auf den Tatort geworfen, ihn abgesperrt und die Kriminalpolizisten in Rosebud informiert. Dann hatte das Kind, das ganz vom Blut der Mutter verschmiert, aber erstaunlich gefasst war, erklärt, dass ihr Großvater ein Polizist sei, ein wichtiger Polizist, Superintendent McQuarrie.
»Was sollte ich machen«, sagte der DC aus Rosebud, »wir mussten ihn doch anrufen.«
Challis nickte. Er nannte dem uniformierten Constable, der am oberen Ende der Zufahrt die Anwesenheitsliste führte, seinen Namen und blieb einen Augenblick stehen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Oben die asphaltierte Straße, an deren grasigen Rändern verschiedene Polizeifahrzeuge, darunter sein eigener Wagen, abgestellt waren. Dazu noch der Leichenwagen des Bestattungsinstitutes, das von der Regierung damit beauftragt war, verdächtige Todesfälle ins Leichenschauhaus zu bringen. Absterbende Eukalyptusbäume, Pittosporen, Kiefern und Farne. Etwas weiter vorn eine steile Schotterzufahrt hinunter zu einem kleinen Schindelhaus, wo ein silberfarbener Volvo Kombi mit offenen Türen stand.
Dort unten befanden sich ebenfalls eine Reihe von Männern und Frauen in weißen oder blauen Einmaloveralls und Überschuhen. Sie standen neben oder unter einem aufblasbaren Zelt, das die Leiche und die unmittelbare Umgebung vor Wind und Regen schützen sollte. Ein Fotograf machte Bilder und Videoaufnahmen von der Leiche und von ihrer Position im Vergleich zum Wagen, den Beeten, dem Haus und dem kleinen
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