Schnee an der Riviera
alles um sich herum wahr. Eine Qual, die sie mit einem unerträglichen Gefühl von Ohnmacht und Panik erfüllte. Es gab keinen Ausweg, alle Anstrengungen, die Lider zu öffnen, waren vergeblich, sie waren wie versiegelt. Einzig sicher war nur die bevorstehende Katastrophe.
Sie muss gestöhnt und sich verzweifelt gewunden haben im Versuch, dem Unausweichlichen zu entgehen, denn die Bettdecke liegt neben ihr auf der Erde.
»Gottlob, es war nur ein Traum«, flüstert sie, und als sie sich übers Gesicht fährt, merkt sie, dass es schweißgebadet ist, so sehr hat sie um ihr Leben gekämpft. Schnell läuft sie ins Bad, stolpert dabei fast über das Federbett, dreht den Duschhahn auf und stellt sich unter den Wasserstrahl, um sich den widerwärtigen Schweiß von der Haut zu waschen, der nach Todesangst riecht.
»Himmelkreuzdonnerwetter, jetzt muss ich von dem Mist auch noch träumen, als wäre die Wirklichkeit nicht schon schlimm genug, verdammt noch mal.«
Wenn etwas Nelly aus dem Gleichgewicht gebracht hat, wird ihre Ausdrucksweise noch unfeiner als sonst, als könne sie mit einem befreienden Fluch die Schatten des namenlosen Bösen verjagen.
»Du bist ja verrückt, deine Nerven liegen blank, du bist am Ende, Nelly, krieg dich mal wieder ein, es war nur ein Albtraum, sonst nichts«, redet sie sich kurze Zeit später gut zu, während sie die Haare auf der Terrasse in der Sonne trocknen lässt und wartet, bis die Bialetti mit dem vertrauten Gurgeln anzeigt, dass der Kaffee fertig ist. Der wahre, reale Albtraum mit seinem grausigen Showdown im Meer vor Bogliasco liegt mittlerweile zwei Wochen zurück. Miriam hat in der Zwischenzeit das Bewusstsein wiedererlangt, doch sie ist wie abwesend. Reagiert auf keinerlei Reize. Die Ärzte wollen sich noch nicht festlegen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie irgendwann wieder ein normales Leben führen kann. Und was heißt schon normal? Ein Mädchen ihres Alters, die einen Gleichaltrigen, einen Freund, zum Tode verurteilt und einen weiteren auf dem Gewissen hat, sei es nun direkt oder indirekt. Die bereit war, ihre beste Freundin und deren Liebsten umzubringen ... Mit gewohntem Masochismus gießt sich Nelly den gesamten Inhalt der Espressokanne (für drei Tassen) ein und trinkt ihn mit einem Schuss Milch und vier Teelöffeln Zucker. So viele schwarze Löcher in dieser Geschichte, die Protagonisten fast alle tot oder unfähig auszusagen. Sie betrachtet die Pflanzen auf der Terrasse, die halbvertrocknet waren und erst unter Maurizios mitfühlenden Händen wieder zu neuem Leben erwachen. Bei dem Gedanken an ihn und immer noch im Bann des Alpdrucks der Nacht, steht sie auf und öffnet ganz leise die Tür zu seinem Schlafzimmer, um entgegen aller Vernunft nachzusehen, ob er noch da ist, und entgegen auch des letzten Restchens Vernunft zu prüfen, ob er noch atmet, wie sie es manchmal getan hat, als er noch klein war. Mau schläft, seine Füße ragen über die Matratze – wir müssen ihm bei Ikea ein größeres Bett kaufen, aber nicht diesen Monat, kein Geld, seufzt Nelly –, und wirft im Traum den Kopf von einer Seite zur anderen, als müsse er eine quälende Last abschütteln. Letzte Nacht war er, wie stets in den vergangenen zwei Wochen, bis spät wach, sah pausenlos fern und hörte Musik; Kamillentee, selbst in rauen Mengen, wirkt bei ihm nicht mehr. Er hat sich auf Baldrian verlegt gegen die Schlaflosigkeit, aufs Rauchen (wirklich nur Zigaretten?) und ist absolut unausstehlich. Manchmal hat sie das Gefühl, er hasst sie. Beim geringsten Anlass wird er aggressiv, schreit herum. Einfach nicht wiederzuerkennen.
Er hat dieses gewisse Etwas des tollpatschigen Welpen verloren, das er noch vor kurzem hatte, bis zu jenem berühmten Tag in der Schule. Sein Gesicht ist männlicher geworden, härter. In einer Woche soll er wieder am Unterricht teilnehmen – so Gott will, denkt Nelly. Mau weigert sich, zu einer Psychologin zu gehen, einer alten Freundin seiner Mutter. Er möchte auf keinen Fall über das reden, was passiert ist. Schlechtes Zeichen. Die Katzen kommen maunzend heran und reiben sich an ihren Beinen – okay, okay, sofort. Nachdem sie sich unter einiger Anstrengung und dem Gefühl großer Mattigkeit angezogen hat, steigt Nelly die Treppe hinab und geht zu Beppes Bar. Seit Tagen feiern ihre Freunde sie. Beppe hat sie sogar zu einem Cappuccino eingeladen (einmal). Das ist etwas ganz Besonderes, denn Großzügigkeit zählt garantiert nicht zu seinen Tugenden. Sie
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