Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
Vom Netzwerk:
Gutenachtkuss mehr und begann sich für Motoren und Mädchen zu interessieren. Und eines Tages würde er sich mit einem von ihnen in ein Auto setzen und sie verlassen, auch er.
    “Was meinst du damit?”, erkundigte sie sich und drehte den Zündschlüssel.
    “Der Schneemann … “
    Als der Motor nicht ansprang, befiel sie jähe Panik. Dabei wusste sie gar nicht, wovor sie eigentlich Angst hatte. Sie starrte durch die Windschutzscheibe und drehte den Schlüssel noch einmal. Konnte die Batterie ihren Geist aufgegeben haben?
    “Und, wie sah der Schneemann aus?”, fragte sie, trat aufs Gaspedal und drehte den Schlüssel verzweifelt und mit einer solchen Kraft, als wollte sie ihn abbrechen. Ihr Sohn antwortete, aber seine Worte wurden von dem ohrenbetäubenden Aufbrüllen des startenden Motors übertönt.
    Sara legte den Gang ein und ließ die Kupplung kommen, als hätte sie es plötzlich sehr eilig fortzukommen. Die Räder drehten auf dem weichen, lockeren Neuschnee durch. Sie gab kräftiger Gas, aber sie bewegten sich nicht vom Fleck, nur das Heck des Wagens bewegte sich langsam zur Seite. Schließlich hatten sich die Räder durch den Schnee bis zum Asphalt durchgefressen, und sie schossen auf die Straße hinaus.
    “Papa wartet auf uns”, sagte sie. “Wir müssen uns beeilen.” Sie schaltete das Radio ein und drehte die Lautstärke auf, um das Auto mit anderen Geräuschen als ihrer eigenen Stimme zu füllen. Ein Nachrichtensprecher verkündete zum hundertsten Mal, dass Ronald Reagan in der vergangenen Nacht Jimmy Carter in der amerikanischen Präsidentschaftswahl besiegt hatte.
    Als der Junge noch einmal etwas sagte, blickte sie in den Rückspiegel.
    “Wie bitte?”, fragte sie laut.
    Er wiederholte es, aber sie verstand ihn noch immer nicht, so dass sie das Radio leiser drehte, während sie den Wagen den Hang Richtung Hauptstraße hinuntersteuerte. Dort unten konnte man den Fluss erkennen, der sich wie ein Trauerflor durch die Landschaft zog. Sie zuckte zusammen, als sie bemerkte, dass der Junge sich zwischen den Sitzen nach vorn gebeugt hatte. Seine Stimme war ein trockenes Flüstern dicht an ihrem Ohr. Als sei es wichtig, dass niemand sonst seine Worte hörte.
    “Wir werden sterben.”

KAPITEL 2
    2. November 2004. 1. Tag. Kieselaugen
    Harry Hole fuhr zusammen und riss die Augen auf. Es war eiskalt und dunkel. Eine Stimme hatte ihn mit der Nachricht geweckt, dass das amerikanische Volk an diesem Tag darüber entschied, ob sein Präsident auch in den nächsten vier Jahren George Walker Bush heißen würde. November. Nun waren sie wirklich langsam auf dem Weg in die Finsternis, dachte Harry. Er schlug die Decke zur Seite und stellte die Füße auf den Boden. Das Linoleum war so kalt, dass ihm die Fußsohlen weh taten. Er ließ den Radiowecker mit den Nachrichten laufen, ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Auch hier November: schlaff, grau und wolkenverhangen. Die Augen wie immer blutunterlaufen und die Poren auf der Nase so groß wie schwarze Krater. Die Ringe unter den Augen mit der hellblauen, alkoholgespülten Iris würden verschwinden, wenn er sich erst mit warmem Wasser gewaschen, abgetrocknet und gefrühstückt hatte. Nahm er jedenfalls an. Harry war aber nicht ganz sicher, wie sich sein vierzigjähriges Gesicht im Laufe des Tages halten würde. Ob sich die Falten glätten und der gehetzte Gesichtsausdruck verschwinden würde, mit dem er aus seinen quälenden Alpträumen aufgewacht war. Wie in den meisten Nächten. Sobald er die kleine, spartanisch eingerichtete Wohnung in der Sofiesgate verlassen hatte, um wieder Hauptkommissar Hole im Osloer Dezernat für Gewaltverbrechen zu werden, ging er jedem Spiegel aus dem Weg. Dann starrte er nur noch in die Gesichter anderer Menschen, um deren Schmerzen und Achillesferse zu finden, deren Alpträume, Motive und Gründe, sich selbst zu betrügen. Er lauschte ihren ermüdenden Lügen und versuchte einen Sinn darin zu finden, Leute einzusperren, die sich schon längst selbst eingesperrt hatten. In einem Gefängnis aus Hass und Selbstverachtung, das er selbst nur allzu gut kannte. Er fuhr sich mit der Hand über die blonden Haarstoppeln, die genau 193 Zentimeter über den kalten Fußsohlen aus seiner Kopfhaut sprossen. Seine Schlüsselbeine ragten wie Kleiderbügel unter der Haut hoch. Seit dem letzten Fall hatte er viel trainiert. Geradezu frenetisch, wie er fand. Neben dem Fahrradfahren hatte er begonnen, im Kraftraum im Keller des Präsidiums

Weitere Kostenlose Bücher