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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Gewichte zu stemmen. Es gefiel ihm, wenn die brennenden Schmerzen einsetzten und jeden Gedanken verdrängten. Trotzdem war er immer nur dünner geworden. Das Fett war verschwunden, und die Muskeln hatten sich wie schmale Streifen zwischen Haut und Knochen geschoben. Und während er früher breitschultrig gewesen war und - wie Rakel meinte - auf eine natürliche Weise athletisch, glich er jetzt dem Bild eines gehäuteten Eisbären, das er irgendwo einmal gesehen hatte: ein muskulöses, aber schockierend mageres Raubtier. Er stand ganz einfach kurz vorm Verschwinden. Nicht dass das irgendwie wichtig gewesen wäre. Harry seufzte. November. Es würde noch finsterer werden.
    Er ging in die Küche, trank ein Glas Wasser gegen die Kopfschmerzen und starrte verwundert aus dem Fenster. Das Dach auf der anderen Seite der Sofiesgate war weiß, und das reflektierte Licht stach grell in seinen Augen. In der Nacht war der erste Schnee gefallen. Er dachte an den Brief. Solche Briefe bekam er immer wieder mal, aber dieser letzte war mit seiner Anspielung auf Toowoomba wirklich sehr speziell gewesen.
    Im Radio hatte jetzt ein Naturprogramm begonnen. Eine Stimme redete voller Begeisterung über Seehunde. ” Jeden Sommer versammeln sich die Seehunde in der Beringstraße, um sich dort zu paaren. Da die Männchen in der Überzahl sind und sich gegen harte Konkurrenz durchsetzen müssen, bleiben sie während der ganzen Paarungszeit bei ihrer Partnerin. Das Männchen bewacht sein Weibchen, bis das Junge zur Welt gekommen ist und alleine zurechtkommt. Nicht aus Liebe zu dem Weibchen, sondern aus Liebe zu seinen eigenen Genen. Nach Darwins Theorie ist die natürliche Selektion im Kampf ums Überleben der Grund für die Monogamie der Seehunde in der Beringstraße - und nicht die Moral. “
    Na dann, dachte Harry.
    Die Stimme im Radio überschlug sich fast vor Begeisterung: “Aber bevor die Seehunde die Beringstraße verlassen, um im offenen Meer Nahrung zu suchen, wird das Männchen versuchen, das Weibchen zu töten. Und warum? Weil sich ein Seehundweibchen nie zweimal mit demselben Männchen paart. Es geht dabei um eine Art biologische Risikoverteilung des Erbmaterials, genau wie im Aktienmarkt. Für sie ist es biologisch sinnvoll, sexuell freizügig zu sein, und das Männchen weiß das. Indem er ihr das Leben nimmt, hindert er sie daran, andere Seehundjunge in die Welt zu setzen, die seinem eigenen Nachwuchs Konkurrenz machen.”
    “Wir sind doch wohl auch Teil der darwinistischen Theorie, warum verhalten sich also Menschen nicht wie Seehunde?”, fragte eine andere Stimme.
    “Aber das tun sie doch! Unsere Gesellschaft ist weiß Gott nicht so monogam, wie sie aussieht. Und sie ist das nie gewesen. Eine schwedische Studie, die vor kurzem veröffentlicht wurde, zeigt, dass fünfzehn bis zwanzig Prozent aller Kinder einen anderen Vater haben als sie - und der mutmaßliche Vater - glauben. Zwanzig Prozent! Das bedeutet, jedes fünfte Kind lebt mit so einer Lüge. Und sorgt für biologische Vielfalt.”
    Harry drehte den Sender weiter, auf der Suche nach einigermaßen erträglicher Musik. Bei Johnny Cashs Rentnerversion von “Desperado” blieb er hängen.
    Es klopfte laut an der Tür.
    Er ging ins Schlafzimmer und zog sich eine Jeans an. Dann machte er die Tür auf.
    “Harry Hole?” Der Mann trug einen blauen Overall und sah ihn durch dicke Brillengläser an. Seine Augen waren klar wie die eines Kindes.
    Harry nickte.
    “Haben Sie Pilze?” Der Mann verzog keine Miene bei dieser Frage. Eine lange Haarsträhne klebte ihm schräg auf der Stirn. Unterm Arm hatte er ein Plastikschreibbrett mit Clip, unter dem ein dicht beschriebenes Blatt klemmte.
    Harry wartete auf eine erklärende Fortsetzung, aber es kam nichts. Nur dieser offene Blick.
    “Das”, erwiderte Harry, “ist wohl meine Privatsache, wenn man’s genau nimmt.”
    Der Mann deutete ein Lächeln an, als hätte er diesen Witz langsam ein bisschen zu oft gehört.
    “Pilze in der Wohnung. Schimmel.”
    “Ich habe keinen Grund zu dieser Annahme”, sagte Harry. “Das ist ja gerade das Problem mit Schimmel. Der zeigt sich nur
    selten wirklich deutlich.” Der Mann zog Luft durch die Zähne ein und wippte auf den Ballen.
    “Aber?”, hakte Harry nach.
    “Er ist trotzdem da.”
    ” Warum sind Sie da so sicher?” “Ihr Nachbar hat auch welchen.”
    “Ah ja, und Sie meinen, der kann sich ausgebreitet haben?” “Schimmel breitet sich nicht aus. Hausschwämme breiten

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