Schoene Bescherung
mit einer Handbewegung zu sich zitierte. Jetzt muss man wissen, dass es Plotek auf den Tod nicht ausstehen konnte, wenn ihn jemand zu sich zitierte. Mit Handbewegung oder ohne. Das war schon früher so und das wird sich auch nicht mehr ändern, dachte Plotek und jetzt an seine ostalbschwäbische Heimat, wo er regelmäßig als Kind an die Tafel zitiert wurde. Schule jetzt. Meterlange Zahlenreihen standen da, die er zusammenzählen musste, voneinander abziehen, dividieren, multiplizieren und alles – am Ende kam immer das falsche Ergebnis raus. Danach gab es eine Tracht Prügel mit dem Lineal. Andere Zeiten, andere pädagogische Konzepte eben. Na ja, von Pädagogik konnte man da nicht gerade sprechen – eher Faustrecht, nach der Maxime: Der eine schlägt, der andere wird geschlagen – so lange bis er selber schlägt oder tot ist. Oder Theater jetzt. Zweimal ist Plotek in seiner Schauspieler-Karriere zum Intendanten zitiert worden. Das eine Mal hat er während der Vorstellung einen Zuschauer, der in der ersten Reihe ununterbrochen mit seinem Nebenmann tuschelte, am Kragen gepackt und durchgeschüttelt. War er dann auch ruhig – während der Vorstellung. Danach nicht mehr. Hat er sich natürlich echauffiert, dann auch beschwert – abends nach der Vorstellung und am nächsten Morgen dann auch in der Intendanz. Die Folge: Abmahnung für Plotek und beim nächsten Mal Arrivederci! Plotek war’s egal. Damals war er aber auch noch jung, sehr jung, und hat sich nicht alles gefallen lassen. Beim anderen Mal war’s wegen einem Blackout in Marburg – Landestheater, Hamlet – , wo Plotek als Prinzenspross nicht mehr weiterwusste. In der Szene nicht und anschließend im Leben auch nicht mehr. Und da war’s dann vorbei mit dem Theater – aber noch mal egal.
Die Hasenscharte stocherte immer noch mit dem Finger in der Luft herum. Ging Plotek eben den Busgang entlang an den Sitzen vorbei nach hinten. Und: Fehler! Jetzt stand Plotek direkt vor dem Mann und dabei ist es ihm augenblicklich schlecht geworden. Das gibt’s oft. Man schaut jemandem ins Gesicht und es wird einem schlagartig übel. Nicht immer wegen der visuellen Irritation durch Deformation: Hasenscharte, Glasauge, krumme Nase, schiefe Zähne, Narben, Warzen, Leberflecke, offene Wunden, Ausschläge und alles. Manchmal ist da auch gar nichts im Gesicht, was einem spanisch vorkommt, und trotzdem wird es einem speiübel. Da lösen dann Blicke ganze Lawinen von scheußlichen Empfindungen aus. Jetzt, bei Plotek, die Hasenscharte. Manchmal sind es auch Erinnerungen – oft verdrängte – , die plötzlich wieder ins Spiel kommen. Quasi, eine Hasenscharte löst die Erinnerung an eine andere aus. Hasenscharten-Psychologie eben. Jetzt ist Plotek beim Anblick des Busreisenden mit der Wehner-Brille, der Hasenscharte und dem Namen Walter Wilhelm Pfarrer Thanwälder aus Lauterbach eingefallen. Der hatte auch eine Hasenscharte. Von Thanwälder zur Übelkeit war es nur ein Katzensprung. Weniger als ein Katzensprung. Ein Mückenschiss! Ein einziger Gedanke an Thanwälder drehte Plotek den Magen um. Thanwälder war kein Pfarrer, Thanwälder war ein Schwein. Gerne hat er den Ministranten an die Popos gefasst. Klischee jetzt, denkt man, aber vergiss es. In der Sakristei ist der Thanwälder vor dem Hochamt so manchem Buben näher gekommen. Wenn die Ministranten mit ihren schlabberigen Unterhosen und Hemden in der kalten Sakristei standen und sich die Ministrantengewänder anzogen, ist Thanwälders roter Schädel noch ein wenig röter geworden. Ganz dicht ist er an die schmächtigen Bubenleiber herangerückt und hat mit seinen fleischigen Fingern nicht nur an deren Gewändern herumgenestelt, sondern auch an den Buben selbst. Mal saß die Stola nicht richtig, dann musste das Hemd noch mal geknöpft werden, dann der Schurz gebunden und und und. Immer hatte er etwas auszusetzen und mit seinen schwitzigen, dicken Fingern zu korrigieren. Zuletzt hat er den Ministranten mit der flachen Hand und unter Zuhilfenahme von beträchtlicher Thanwälder-Spucke über die strubbeligen Haare gestrichen, dass die nicht nur glatt am Kopf klebten, sondern auch noch mindestens bis zum Abendmahl nach Thanwälders Mundgeruch stanken. Ob sich der Pfarrer seiner Verfehlungen bewusst war, keine Ahnung. Vermutlich nicht. Eher Gegenteil. Höchstwahrscheinlich dachte er, in Zeiten, wo Hirnschnalzer, Kopfnüsse und Ohrfeigen keine Körperverletzung, sondern Disziplinierungsmaßnahmen innerhalb der pädagogischen
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