Schoene Bescherung
wäre. Aber dann doch wieder so laut, dass selbst der latent Hörgeschädigte es noch verstehen konnte.
»Ach so, Herr. . . äh . . . hätte ich beinahe vergessen, ich hab meine Goldene Master Card vergessen, ja, blöd, aber. . . könnten Sie mir die schnellstens zuschicken? Ja. Nein. Die Adresse ist in der Schublade, die Karte auch. Ja. Danke.«
Eitler Selbstdarsteller oder schlechter Schauspieler, dachte Plotek einerseits. Andererseits: gibt’s oft. In Zügen, Bussen, Straßenbahnen, öffentlichen Einrichtungen, Supermärkten, auf Gehwegen, Fußgängerzonen. Überall wird die eigene Unentbehrlichkeit dokumentiert, für sich selbst und andere. Das kann natürlich auch ins Auge gehen, respektive ans Leben. Plotek hat es selbst mitansehen müssen, wie aus einem sprechenden, vermeintlich selbstbewussten Ich plötzlich nichts wurde, ein stummer, lebloser Zellhaufen. Plotek stand bei strömendem Regen, gerade vom Froh und Munter kommend, an einem Zebrastreifen. Kam ein Mann mit schnellen Schritten angelaufen. In der einen Hand einen aufgespannten Regenschirm, in der anderen ein Handy und unter der Achsel einen Aktenkoffer eingeklemmt. Im Gehen sprach er laut auf sein kleines Mobiltelefon ein, so laut, dass ihm nicht nur Hören, sondern vermutlich auch das Sehen verging. Plotek wollte noch »Halt!« und »Vorsicht!« schreien – aber zu spät. Flog der Mann mitsamt dem Regenschirm, dem Aktenkoffer und dem Handy – noch immer am Ohr – von der Motorhaube eines Opel Vectra durch die Luft wie ein Rotkehlchen, drehte ein paar schöne Pirouetten über der Straße und landete keine zehn Meter weiter weniger elegant auf dem Gehsteig. Von da an hat der Mann nichts mehr geredet. Aber das Handy: »Alfred, bist du noch da?«, hat es aus sich herausgeschrieen. »Alfred, sag doch was!«
War der Alfred zwar noch da. Gesagt hat er aber nichts mehr, der Alfred. War der Alfred tot – so kann’s gehen. Das Handy hielt er aber, unglaublich, aber wahr, noch immer in der Hand. Als wollte er selbst im Jenseits erreichbar sein, um sich seines zermanschten Selbsts zu vergewissern. Seitdem war für Plotek klar: nie Handy, nie telefonieren in der Öffentlichkeit und immer am Zebrastreifen anhalten – einerseits. Andererseits sprechen die einen eben laut mit ihrem Handy, dachte Plotek, die anderen ganz leise mit der Handtasche. Auch das gibt es oft. Menschen, die ganz selbst – und hemmungslos fremden Menschen mitteilen, was sie gerade weniger fremden Menschen mitzuteilen haben. Auch Intimstes. Bei dem Mann mit Nadelstreifenanzug im Bus ging es offenbar um Geschäftliches. Banker? Spekulant? Aktionär? dachte Plotek. Nein, ein Banker sitzt an der Börse oder in der Bank und nicht im Bus nach Karlsbad. Wenn, dann war das ein Privatier, ein braungebrannter Privatier, ein mit der besten Bräunungscreme im Land experimentierender Privatier, gepflegt, mit kurzem gegelten Haarschnitt, die Ohren sauber ausgeschnitten. Er trug einen exakt sitzenden, dunkelblauen Anzug und ein blaues Hemd. Dazu eine leuchtend rote Krawatte. Er saß allein in einer der letzten Busreihen und erinnerte Plotek ein wenig an Arno Brunner, seinen ehemaligen Schauspielkommilitonen und Sohn vom Bürgermeister aus Altötting. Auf der anderen Seite, ihm gegenüber, saß, ebenfalls alleine, eine Frau mit einem Gesicht, das sich sehen lassen konnte. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille und hatte eine schöne Mireille-Mathieu-Frisur. Die beiden schienen nicht zueinander zu gehören. Obwohl es Plotek so vorkam, als ob der Mann, nachdem er sein Handy wieder in der Jackentasche verschwinden ließ, hin und wieder an die Frau gerichtet etwas sagte. Die schien aber nicht darauf zu reagieren und guckte unbeeindruckt aus dem Fenster. Entweder ist sie taub oder nicht an einem Gespräch interessiert, dachte Plotek. Und dann: nicht taub, blind. An ihrem rechten Arm sah er eine gelbe Stoffbinde mit drei schwarzen Punkten drauf.
Ein unheimlich dicker Mann mit kahlrasiertem Schädel, Zweitagebart und Dreifachkinn, einem schwarzen Rollkragenpullover und einem ausgebeulten grauen Anzug fragte jetzt, ob im Bus geraucht werden dürfte. Noch ehe Plotek etwas sagen konnte, meldete sich schon die Frau hinter ihm mit einem lauten und aggressiven »Wollen Sie uns alle umbringen?« zu Wort. Der Mann mit dem kahlrasierten Schädel drehte sich langsam um, sah die Frau lange und mit festem Blick an, als hätte sie ihn da auf eine Idee gebracht. Die Frau, nicht weniger dick als der Mann, mit riesigen
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