Schoene Bescherung
1
Jetzt war Plotek wieder ins Froh und Munter geflüchtet. Eine Flucht war das allemal, wie Plotek da Hals über Kopf vor Agnes davonlief und in seiner Lieblingsgaststätte Schutz suchte. Er war dieser Frau einfach nicht gewachsen. Für jedes Argument hatte sie drei dagegen. Mit in die Hüften gestemmten Armen ist sie in Ploteks Wohnzimmer gestanden und hat auf Plotek eingeredet, dass sogar Fritz, Ploteks adoptierte Katze, sich unter dem Schrank versteckte. Selbst wenn Plotek gewollt hätte, hätte er nichts sagen können. Agnes hat ihn einfach nicht zu Wort kommen lassen. Sätze so lang wie ein Kälberstrick und so bunt wie Glasmurmeln hat sie aneinander gereiht, dass Plotek gar nicht hinterhergekommen ist mit dem Verstehen. Eine Eloquenz und eine Sprachverliebtheit hat Agnes an den Tag gelegt wie höchstens der alte Walter Jens aus Tübingen. Jetzt muss man wissen, dass der nicht nur fast doppelt so alt und erfahren wie Agnes ist, sondern auch noch Rhetorikprofessor, und demzufolge alle Tricks kennt, wie man mit Sprache, mit bloßem Sprechen den anderen über den Tisch ziehen konnte. Agnes war kein Rhetorikprofessor, kannte aber genauso viele Tricks. Plotek merkte, wie er trotz seines tief verwurzelten Unverständnisses ins Wanken geriet. Quasi schon Aug in Aug mit der Tischplatte. Obwohl es da gar nicht viel zu verstehen gab. Die Sache war eigentlich von Anfang an klar. Agnes wollte, Plotek wollte nicht. Dazwischen lagen tagelange Diskussionen, Schubkarren voller Worte und Plastiktüten angefüllt mit Gefühlen. Obwohl Plotek mit Gefühlen so seine Probleme hatte. Mit den eigenen und mit den anderen auch. Die eigenen konnte er nicht zeigen und die anderen wollte er nicht sehen. Ganz anders Agnes. Die konnte alles zeigen, auch wenn Plotek es nicht sehen wollte und schon gar nicht wusste, was er mit dem Strip der ganzen Emotionen anfangen sollte. Weinte sie, war es ihm unwohl, schrie sie, auch. Plotek weinte nie, schrie auch nicht und lachte nur, wenn’s sein muss. Aber, wann musste es schon sein? Jetzt, vielleicht.
»Lach nicht so blöd!«, hat Agnes gesagt. »Entweder du stehst zu mir oder du stehst nicht zu mir.«
Es geht doch nicht darum, wie der eine zum anderen steht, dachte Plotek, oder der andere zum einen nicht steht. Es geht nicht um die Oberfläche, es geht um die Tiefe. Um das, was drunter ist – wenn da was ist. Eine ganze Menge ist da, dachte Plotek, eine ganze Menge eigener Abgründe. Und in denen haben sich die Traumata eingenistet wie die Motten im Kragen seiner Cordjacke und feiern dort das ganze Jahr über fröhliche Urständ oder als wären Weihnachten, Ostern und Silvester an einem Tag. Die Cordjacke kann er noch so oft in die Reinigung bringen, ein paar Tage später sind sie schon wieder da. Hartnäckig, resistent und nicht totzukriegen. Die Motten nicht, die Traumata auch nicht. Und eins davon ganz besonders nicht. Um das dreht sich alles, nur darum geht es, hätte Plotek zu Agnes sagen wollen, wenn er es hätte sagen können: Das Trauma, mein Trauma: die Familie! Es geht um die Familie, um die eigene und alle anderen. Jetzt muss man wissen, dass Plotek so seine Probleme in Bezug auf die Familie hatte. Von Kindheit an hat Plotek schlechte Erfahrungen mit seiner Familie in Lauterbach gemacht. Mit der Muttermilch hat er die familiären Scherereien in sich eingesogen. Das hat sich dann gehalten bis heute. Das war auch der Grund, weshalb er seit Jahren seine Familie mied wie höchstens der Teufel das Weihwasser und auf jeglichen Besuch im Schwäbischen verzichtete. Die Einladungen für die ständig wiederkehrenden Feste und Feiern schlug er kommentarlos aus. Bei den Festen und Familienfeiern machte sich Ploteks Abneigung gegen alles Familiäre besonders bemerkbar. Hochzeit, Geburtstag, Kommunion, Weihnachten, Ostern, Erntedank, Allerheiligen, Tod. Wenn sich alle – die ganze Familie inklusive Verwandten und Bekannten – bei einem derartigen Anlass für kurze Zeit trafen, wurde es unerträglich. Von Anfang an war das desaströse Ende schon abzusehen. Wie eine mathematische Gleichung verhielt sich die Zusammenkunft. Eins und eins gibt zwei, zwei und zwei vier, und wenn mehr dazukommen, wird es kompliziert. Oder anders ausgedrückt: Zuerst waren alle froh, glücklich und zufrieden, dann weniger froh, dann betrunken und zuletzt flogen Stühle an die Wand. Und mit ihnen wurden Beleidigungen ausgekippt, Bosheiten und Vorwürfe wie beim Sommerschlussverkauf unter Preis verhökert und
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