Schöne neue Welt
der primitiven Alternative des Dilemmas läge die Möglichkeit normalen Lebens - bereits einigermaßen verwirklicht in einer Gemeinschaft von Verbannten und Flüchtlingen aus der »schönen neuen Welt«, die innerhalb einer Reservation leben. In dieser Gemeinschaft wäre die Wirtschaft dezentralistisch und henry- georgeisch, die Politik kropotkinesk und kooperativ. Naturwissenschaft und Technologie würden benutzt, als wären sie, wie der Sabbath, für den Menschen gemacht, nicht, als solle der Mensch (wie gegenwärtig und noch mehr in der »schönen neuen Welt«) ihnen angepaßt und unterworfen werden.
Religion wäre das bewußte und verständige Streben nach dem höchsten Ziel des Menschen, nach der einenden Erkenntnis des immanenten Tao oder Logos, der transzendenten Gottheit oder des Brahman. Und die vorherrschende Lebensphilosophie wäre eine Art von höherem Utilitarismus, worin das Prinzip des größten Glücks dem des höchsten Zwecks untergeordnet ist - denn die erste, in jeder Lebenslage zu stellende und zu beantwortende Frage hieße: »Inwieweit würde dieser Gedanke oder diese Handlung fördern oder hindern, daß ich und die größtmögliche Zahl anderer das höchste Ziel des Menschen erreichen?«..... Unter Primitiven aufgezogen, würde der Wilde (in dieser hypothetischen neuen Fassung des Buches) nicht nach Utopia verpflanzt werden, bevor er nicht Gelegenheit gehabt hätte, aus erster Hand etwas über das Wesen einer Gesellschaft zu erfahren, die aus frei zusammenwirkenden und nach Geistesgesundheit strebenden Individuen besteht. So verändert, besäße Schöne neue Welt eine künstlerische und (wenn es erlaubt ist, ein so großes Wort in Verbindung mit einem Werk der schöngeistigen Literatur zu verwenden) philosophische Vollkommenheit, an der es dem Buch in seiner gegenwärtigen Form ersichtlich mangelt.
Aber Schöne neue Welt ist ein Buch über die Zukunft, und ein solches Buch, was immer seine künstlerischen und philosophischen Qualitäten sein mögen, vermag uns nur zu interessieren, wenn seine Prophezeiungen so aussehen, als könnten sie Wirklichkeit werden. Von unserem gegenwärtigen Aussichtspunkt - fünfzehn Jahre weiter unten auf der schiefen Ebene der Geschichte der Neuzeit -, wie wahrscheinlich erscheinen da seine Voraussagen? Was ist in der schmerzensreichen Zwischenzeit geschehen, was die Prophezeiungen aus dem Jahr 1931 bestätigen oder widerlegen könnte?
Der eine gewaltige und unverkennbare Mangel an Voraussicht wird sogleich offenbar. Schöne neue Welt enthält keine Anspielung auf die Kernspaltung. Das ist wirklich sehr befremdlich; denn die Möglichkeiten atomarer Energie waren, schon Jahre bevor das Buch geschrieben wurde, ein beliebter Gesprächsgegenstand. Ein alter Freund von mir, Robert Nichols, hatte sogar ein erfolgreiches Theaterstück über dieses Thema geschrieben, und ich erinnere mich, daß ich selbst es in einem Roman beiläufig erwähnte, der in den späten zwanziger Jahren veröffentlicht wurde.
Demnach erscheint es, wie ich sagte, sehr befremdlich, daß die Raketen und Hubschrauber des 7. Jahrhunderts Unseres Herrn Ford nicht von zerfallenden Atomkernen angetrieben sein sollten. Dieses Versäumnis ist vielleicht nichtentschuldbar, aber es läßt sich wenigstens leicht erklären.
Das Thema von Schöne neue Welt ist nicht der Fortschritt der Wissenschaft schlechthin, sondern der Fortschritt der Wissenschaft insofern, als er den einzelnen Menschen betrifft. Die Triumphe der Physik, der Chemie und des Maschinenbaus werden stillschweigend vorausgesetzt. Die einzigen ausdrücklich geschilderten wissenschaftlichen Fortschritte sind solche, welche die Anwendung der Ergebnisse künftiger biologischer, physiologischer und psyc hologischer Forschung auf die Menschen zum Ziel haben.
Nur mittels der Wissenschaften vom Leben kann die Beschaffenheit des Lebens von Grund auf verändert werden.
Die Naturwissenschaften lassen sich zwar so anwenden, daß sie Leben vernichten oder das Leben bis zur Unmöglichkeit kompliziert und unbehaglich machen; aber wenn sie nicht vom Biologen und Psychologen als Werkzeuge verwendet werden, können sie nichts dazu beitragen, die natürlichen Formen und Äußerungen des Lebens zu verändern. Die Entfesselung der Atomkraft bedeutet wohl eine große Revolution in der Menschheitsgeschichte, nicht aber (falls wir nicht selber einander zu Stäubchen zersprengen und so der Geschichte ein Ende machen) die letzte und tiefstgreifende Revolution.
Diese
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