Schöne Ruinen
Schnell faltet sie die Scheine und steckt sie ins Strumpfband, damit Enzo nicht seinen Anteil verlangt. Sie tritt ans Fenster und späht hinunter, und da steht er verloren auf dem Gehsteig: Wisconsin. Wollte ein Buch schreiben. Blitzartig verschmelzen die beiden Momente, die sie mit ihm geteilt hat, und sie liebt ihn mehr als jeden anderen Mann, dem sie je begegnet ist – und das ist vielleicht der Grund, warum sie getan hat, als würde sie ihn nicht kennen: um es nicht zu verderben, um ihm die peinliche Erinnerung an seine Tränen zu ersparen. Aber nein – da ist noch etwas anderes, wofür sie keinen Namen hat, und als er von unten heraufschaut, berührt Maria unwillkürlich die Stelle an ihrer Brust, an die er damals seinen Kopf gedrückt hat. Dann tritt sie zurück vom Fenster –
Auf der Veranda seines kleinen Schindelhauses in Kalifornien schwelgt William Eddy im Rauch seiner Pfeife und genießt das Gewicht des Frühstücks in seinem Magen. So eine dekadente, schuldbeladene Mahlzeit. William Eddy mag jedes Essen, aber das gottverdammte Frühstück liebt er. Ein Jahr lang bleibt er in Yerba Buena und bekommt viel Arbeit, doch dann macht er den Fehler, den Zeitungsjournalisten und den Groschenromanschreibern seine Geschichte zu erzählen, die alles sprachlich und faktisch ausschmücken wie Geier, die die Gebeine seines Lebens nach Skandalen abnagen. Als ihm andere vorwerfen, dass er übertrieben hat, um besser dazustehen, hat Eddy die Schnauze voll und zieht weiter südlich nach Gilroy. Besser dastehen – Allmächtiger, wie kann man nach so etwas besser dastehen? Dank des Goldrauschs von 1849 gibt es reichlich Arbeit für einen Wagenbauer, und William geht es eine Weile gut, er heiratet wieder und hat drei Kinder, doch dann lässt er sich erneut treiben, verlässt seine zweite Familie und haut ab nach Petaluma. Manchmal fühlt er sich wie ein von der Wäscheleine gewehtes Hemd. Seine zweite Frau meinte, dass etwas mit ihm nicht stimmt, dass »etwas Krankes und zugleich Unerreichbares« in ihm steckt; und seine dritte Frau, eine Schullehrerin aus St. Louis, macht gerade die gleiche Erfahrung. Gelegentlich hört er, wie es den anderen ergangen ist: den überlebenden Donners und Reeds, den von ihm geretteten Kindern; sein alter Feind Foster betreibt irgendwo einen Saloon. Er fragt sich, ob auch sie den Halt verloren haben. Vielleicht würde ihn nur Keseberg verstehen – Keseberg, der seine Schande akzeptiert und ein Restaurant in Sacramento City eröffnet hat. An diesem Morgen fühlt sich Eddy ein wenig fiebrig und schwach, doch er wird erst in einigen Tagen herausfinden, dass er mit nur dreiundvierzig Jahren und keine dreizehn Jahre nach seiner mühseligen Durchquerung der Berge sterben muss. Natürlich ist so eine Durchquerung lediglich ein kurzer Abschnitt im Leben. William hustet, und die Verandabretter unter ihm knarren, als er wie jeden Morgen nach Osten blickt und eine Sehnsucht nach der zerschrammten Sonne am Horizont und seiner für immer in der Kälte gefangenen Familie spürt –
Die ganze Nacht wandert der Maler durch dunkle Gebirgs ausläufer nach Norden, wo Gerüchten zufolge die Schweizer Grenze liegt. Er vermeidet Hauptstraßen und durchsucht die Ruinen italienischer Dörfer nach den Resten seiner alten Einheit oder nach Amerikanern, denen er sich ergeben könnte. Er spielt mit dem Gedanken, die Uniform abzulegen, doch er fürchtet noch immer, als Deserteur erschossen zu werden. In der Morgendämmerung sucht er mit dem tiefen Popp-Popp von fernem Granatfeuer im Rücken Zuflucht in einer ausgebrannten Druckerei, lehnt Rucksack und Gewehr an die stabilste Wand und rollt sich mit mehreren leeren Kornsäcken als Kissen unter einem klapprigen Zeichentisch zusammen. Ehe er einschläft, beschwört der Maler in einem täglichen Ritual das Bild seines alten Klavierlehrers in Stuttgart herauf, des Mannes, den er liebt. Komm gut nach Hause , bittet ihn der Pianist, und der Maler verspricht es ihm. Das ist alles, eine keusche Freundschaft zwischen Männern, doch die schiere Möglichkeit hat ihn am Leben gehalten – die Vorstellung vom Moment seiner Heimkehr –, und so denkt der Maler auch jetzt vor dem Einschlafen an den Klavierlehrer, ehe er im Morgenrot vor dem Sonnenaufgang hinüberdämmert und friedlich schlafend von zwei Partisanen entdeckt wird, die ihm mit einer Schaufel den Schädel einschlagen. Nach dem ersten Hieb ist die Entscheidung gefallen: Der Maler wird nicht nach Deutschland zu seinem
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