Schsch!: Ein Winterthriller (German Edition)
bitten, war genau das, was sie brauchte.«
Joseph sah zu, wie Heidi dem Mädchen sagte, dass sie ein paar Minuten verschwinden würde, weil sie mal zur Toilette müsste. Daphne würde in der Zeit auf sie aufpassen. Er hoffte inständig, dass er das Richtige getan hatte.
»Dabei musste ich mich regelrecht dazu durchringen«, gestand er Kate. »Aber unsere Chancen, den Täter zu finden, sinken mit jeder Stunde, die verstreicht. Angel ist der Schlüssel.«
»Hi, Joseph. Kate.« Heidi schloss die Tür hinter sich. »Das Kind ist eine harte Nuss.«
»Wer weiß, ob Daphne wirklich mehr Glück hat«, sagte Joseph. »Trotzdem danke, dass Sie sie hergebracht haben, so dass wir es ausprobieren können.«
»Kein Problem. Es tut dem Mädchen gut, mal aus dem Krankenhaus rauszukommen und etwas anderes zu sehen.«
»Hey«, sagte Daphne gerade. »Ich bin Daphne. Du wirst Angel genannt, hat man mir erzählt.« Sie begutachtete die Malbücher auf dem Tisch und suchte sich eins aus. »Als ich dich eben gesehen habe, kam mir allerdings sofort ›Fee‹ in den Sinn. Feen haben zwar auch Flügel wie Engel, aber sie sind besser drauf. Und frecher. Das mag ich. Ich bin selbst ganz gerne frech.«
Das Mädchen regte sich nicht.
»Ich hab deine Stiefel gesehen. Wow, die sind toll. Du hast einen guten Geschmack, Süße. Oder hat deine Mama sie ausgesucht? Na ja, jedenfalls bin ich neidisch.«
Die Schultern des Kindes versteiften sich, doch die Bewegung war so leicht gewesen, dass sie Joseph entgangen wäre, hätte er das Mädchen nicht so intensiv beobachtet. Auch Daphne hatte es bemerkt, und ihr Blick zuckte kurz zum Spiegel, bevor sie sich wieder dem Malbuch widmete.
»Das hat sie immer dann getan, wenn ich ihre Mutter erwähnt habe«, murmelte Heidi. »Allerdings nur, wenn ich wirklich ›Mama‹ gesagt habe – nicht ›Mommy‹ oder ›Mutter‹. Aber vielleicht heißt das gar nichts.«
»Alles Teile des großen Puzzles«, sagte Joseph ebenso leise.
»Und erst dein Mantel«, fuhr Daphne fort. »So wunderschön und weich. Wo hast du den denn her?« Keine Reaktion. Daphne nahm sich einen Stift und schlug das Malbuch auf. »Oh, da habe ich aber das Richtige gefunden. Da sind ja Ponys drin.« Diesmal war es eindeutig. Angels Kinn ruckte hoch, und für den Bruchteil einer Sekunde sah sie Daphne an. Dann huschte ein Schatten über ihr Gesicht, und der Kopf war wieder unten.
»Und da male ich bis zum Erbrechen Kätzchen an«, bemerkte Heidi trocken.
»Magst du Ponys?«, fragte Daphne. »Ich auch. Das Pony hier ist, glaube ich, aus einer Fernsehserie. Es soll blau oder lila sein, aber ich finde Rosa viel schöner, deswegen male ich es rosa an.«
Angels Schultern bewegten sich auf und ab. Das Mädchen weinte. Joseph sah Daphne voller Mitgefühl schlucken.
»Als ich klein war«, fuhr sie fort, »ein bisschen älter als du, da habe ich etwas Schlimmes gesehen. Ich habe gesehen, wie jemand einem Mädchen, das ich sehr liebhatte, etwas angetan hat. Später wurde ich von netten Leuten gefunden und nach Hause zu meinen Eltern gebracht, aber ich habe lange, lange Zeit nicht mehr gesprochen. Jeder hat auf mich eingeredet, mich nie in Ruhe gelassen und immer wieder gefragt, was mit dem anderen Mädchen passiert ist. Sie wollten es finden, und ich war die Einzige, die wusste, wo es war. Aber ich konnte mich nicht erinnern, und die Sachen, an die ich mich erinnerte, konnte ich nicht sagen, weil ich viel zu viel Angst hatte.«
Keine Antwort. Angels Schultern zuckten nicht mehr; offenbar nahm sich das Kind zusammen. Daphne strich ihm über den Rücken. »Schon gut, Schätzchen. Wein ruhig. Das tut dir gut.«
Angel zog die Knie an, schlang ihre Arme darum und machte sich so klein sie konnte. Der erste Schluchzer brach mit Macht aus ihr heraus, ihr Leid schien fast übermächtig. Daphne strich ihr weiterhin über den Rücken und ließ sie weinen. Als der Tränenstrom abebbte und sie zu husten begann, ließ Daphne sich auf die Knie sinken, zog das Mädchen in ihre Arme und wiegte es.
»Im Krankenhaus hat sie nicht geweint«, sagte Heidi. »Ob die Ponys der Auslöser gewesen sind?«
»Sieht so aus«, sagte Joseph erschüttert.
Schließlich hörte Angel auf zu schluchzen und stieß zitternd den Atem aus.
»Angel?«, sagte Daphne. »Ich habe Ponys. Würdest du sie gerne mal sehen?«
Das Mädchen erstarrte.
»Sag ruhig nein, wenn du nicht magst«, ermutigte Daphne die Kleine. »Oder schüttle den Kopf, wenn du meinst, dass du noch nicht
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