Schuld: Drama (bis Mitte Juni 2013 kostenlos)
noch die aufgebrachte Stimme des Taxifahrers, der mir, wahrscheinlich in seiner Muttersprache, irgendetwas hinterherschreit.
Meine Gedanken sind jetzt wieder ganz bei Amy. Gleich werde ich bei Ihr sein. In wenigen Minuten wird sie frei sein und keine Angst mehr haben müssen.
Ich renne durch eine Seitengasse, biege ab und überquere die Hauptstraße zur anderen Seite. Das Haus, in dem Amy mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gefangen ist, wirkt von hier aus noch dunkler und bedrohlicher als sonst. Das fahle Licht der Straßenlampen zeigt einen Teil der ungepflegten Fassade und in einem Zimmer im oberen Stock brennt Licht.
Ich stehe vor der Eingangstür und versuche, mich daran zu erinnern, in welchem Raum das Licht eingeschaltet ist. Auf welcher Seite war nochmal das Büro von Rosser? Ist es vielleicht die Arztpraxis? Oder das Sprechzimmer der Hellseherin?
Ich bete zu einem Gott, an den ich eigentlich nie geglaubt habe, flehe ihn an, dass Amy hier sein möge und dass die Tür nicht geschlossen ist. Dann lege ich die Hand auf die Türklinke und drücke sie herunter. Und wieder fällt mir ein Stein vom Herzen, die Tür ist offen.
Ich betrete den dunklen Korridor und gehe zu dem Schrank, hinter dem ich Amys Verließ vermute.
Wie soll ich einen alten Holzschrank bewegen, ohne mich dabei zu verraten? Ich greife mit der rechten Hand unter den mit Spinnenweben übersäten Rand, lege die andere links an die Längsseite und versuche, den Schrank leicht anzuheben, doch er macht keinen Wank. Alles oder nichts.
Ich greife noch einmal nach dem Schrank und schiebe ihn mit aller Kraft weg. Stück für Stück. Der Lärm ist mir plötzlich vollkommen egal. Soll er kommen und mich daran zu hindern versuchen.
Nach drei Anläufen stehen der Schrank und die Wand frei. Ich höre Schritte im Obergeschoss.
Mit der Hand fahre ich den Spalt entlang, der sich über ein großes Quadrat entlangzieht. Dann erkenne ich unter der vergilbten Farbe plötzlich eine fast unscheinbare Erhebung. Ich fahre mit den Fingern darüber und ertaste eine Art Pappe. Ich reisse sie weg und blicke auf eine etwa fünf Zentimeter tiefe Einbuchtung, in der ein kleiner silberner Hebel klafft.
Mein Herzschlag erhöht sich, meine Hände beginnen zu zittern, während ich nach dem Hebel greife und ihn herunterdrücke. Die Tür öffnet sich mit einem leisen Klicken.
Ich betrete einen dunklen, modrig riechenden Korridor, der so schmal ist, dass ich mich seitlich hindurchzwängen muss. Nach ein paar Metern gelange ich zu einer kleinen, bunkerartigen Tür mit einem kupferfarbenen Radverschluss.
Ich ziehe und zerre am Rad, muss meine letzten Kraftreserven herauslocken, bis es endlich nachgibt. Hinter mir höre ich Schritte vom Treppenhaus in meine Richtung hallen.
Mit meinem ganzen Körpergewicht lehne ich mich gegen die Bunkertür, bis ich mich schließlich durch den Spalt zwängen kann und mich in einem stockfinsteren Raum widerfinde.
„Amy?“, sage ich leise, um sie nicht zu erschrecken.
„Amy, ich bin`s“.
Ein leises Schluchzen.
Kapitel 42
Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter. Eine Stimme spricht zu mir, die Worte dringen durch die Dunkelheit in mein Unterbewusstsein.
Öffne die Augen.
Ich öffne die Augen.
Ich sitze am Boden, an die Wand gelehnt. Der alte Holzschrank steht quer im Korridor. Die Wand dahinter ist die gleiche wie im Rest des Hauses. Kein Spalt oder Riss, keine Erhebung oder Einbuchtung. Nichts. Absolut nichts.
Neben mir sitzt Valeria. Ich habe keine Ahnung, seit wann sie da ist. Sie sitzt einfach nur da, ohne etwas zu sagen und streicht mit der Hand über meine Schulter.
Ich greife in meine linke Jackentasche und ziehe das zusammengefaltete Foto heraus, das ich in dem verlassenen Schulhaus gefunden hatte.
Ich schaue zur Seite, während ich es auseinanderfalte, fahre mit meinen Fingern darüber, als wäre es etwas unheimlich Wertvolles, Verletzliches. Eine einsame Träne rollt über meine Wange.
Dann sehe ich es mir an.
Mein Blick wandert langsam von links nach rechts. Und bleibt in der Mitte haften. Auf dem vertrauten Gesicht eines geliebten Menschen. Das Gesicht meiner Tochter.
Epilog
Das Geräusch des Regens durchbricht die erdrückende Stille. Die Wassertropfen dringen langsam durch die Kleider auf meine Haut. Ich gehe an den unzähligen Kindergräbern vorbei. Verwelkte Blumenkränze, Lieblingsspielzeuge, Briefe mit zerlaufenen Buchstaben, Wörter der Trauer, verglaste Fotos auf
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