Schule versagt
allein zu lassen, gar nicht erst entstanden und wir hätten es nur noch mit Moses’ Unreife und seiner mangelnden Initiative, seiner Passivität zu tun gehabt. So endete es damit, dass Moses nach unzähligen Rettungsversuchen und dreimaliger Nichtversetzung die Schule verließ. Auch die Eltern von Uwe zogen sich zurück, als es darum ging, das elementare Problem ihres Sohnes, seine Angst, die ihn zum jugendlichen »Säugling« machte, zu überwinden. Auch er verließ die Schule. Jakob war volljährig; da ist die Einbeziehung der Eltern schon schwieriger. 6 An ihn selbst kam ich, genau wie meine Kollegen, nicht wirklich heran. Er hatte mit der Schule innerlich schon abgeschlossen. Als er als Discjockey keine wirkliche Alternative hatte, kehrte er zurück, nach mehreren Monaten des Fehlens, und verlangte ausreichende Noten. Es gelang mir nicht, ihn zu der Einsicht zu bewegen, dass er sich mitnahm, so wie er war, dass er sein mögliches Veränderungspotenzial nicht nutzte. Das lag auch daran, dass er eben tatsächlich nicht wollte. Dazu stehen konnte er aber auch nicht. Seine Lösung bestand darin, dass er sein eigenes Unvermögen auf seine Lehrer projizierte. Das sind Beispiele für die Begrenztheit des Einflussbereichs. Ich musste auch erfahren, dass mein Einflussbereich von der Zeit, einmal ganz abgesehen von der qualitativen Seite der Beziehung, die ich mit den Schülernverbringen konnte, abhing. Oft hatte ich nur eine Doppelstunde pro Woche zur Verfügung, war kein Klassenleiter, und schon deshalb war mein Einflussbereich viel geringer als im umgekehrten Fall. Hinzu kamen andere Probleme, z. B. an einer meiner Schulen der heimliche Lehrplan: die Unwichtigkeit allgemeinbildender Fächer, besonders der politischen Bildung. In diesem Fach wurde nicht einmal ein Abschlussexamen abgenommen. Diese von oben vorgegebenen Bedingungen wirkten sich negativ auf den eigenen Einflussbereich aus. Mein Fach und damit ich selbst rangierten in der allerletzten Kategorie der Anerkennungsskala.
Insofern ist man einerseits gut beraten, wenn man die Dinge akzeptiert, die man nicht ändern kann. Das bewahrt vor Stress und Burn-out. Andererseits habe ich auch immer versucht, meinen Einflussbereich zu erweitern. Es gibt so viele Möglichkeiten zu reagieren, das ist das eine. Wichtiger ist es, sich Möglichkeiten des Agierens zu verschaffen. »Warte, bis du gefragt wirst«, ist nur eine Verhaltensvariante, die unter bestimmten Umständen die richtige Wahl sein kann. Aber »Frage selbst!« ist eine andere, genauso wie »Hör einfach zu!« oder »Mach einen Vorschlag!«, »Mach Mut!« oder »Tu es!«. Im Fall der gesetzten heimlichen Norm der Letztrangigkeit eines meiner Fächer ignorierte ich diese Norm einfach und setzte Lehrern und Schülern gegenüber beharrlich die Norm der Gleichberechtigung der Fächer. Es dauerte fast ein Jahr, bis ich die neue Norm durch mein Verhalten und meinen Unterrichtsstil durchgesetzt hatte. Dadurch erweiterte sich mein Einflussbereich kontinuierlich. In der Regel korrespondiert die Erweiterung vor allem mit den Fortschritten, die die Lehrer-Schüler-Beziehung macht. Und wenn sie keine macht, wie im Fall meiner Niederlagen, dann hat Sisyphos den schweren Stein den Berg hinaufgetragen und nicht Prometheus den Göttern das Feuer entrissen, um es für die Menschen zu entfachen. Manchmal ahnt man schon voraus, in anderen Fällen weiß man erst im Nachhinein, in welcher der beiden Rollen man agiert hat.
Man wird geboren und macht Fehler. So banal sie klingen mag, diese Einsicht ist sehr wichtig. Und vor allem die Bereitschaft, diese Fehler, wenn immer es möglich ist, umgehend zu korrigieren. Wenn das Vertrauenskonto des Lehrers ein ordentliches Guthaben aufweist, ist das umso leichter. Die Beziehung wird nicht leiden.Aber auch wenn das Konto noch nicht so gut gefüllt ist, können Einsicht in die eigenen Fehler, eine Entschuldigung und nachfolgende Verhaltensänderung sogar ein weiteres Guthaben bedeuten. Selbstverständlich besteht dieser Anspruch auch umgekehrt. Jeder proaktive Mensch hat die Wahl, auf verschiedene Art auf einen Außenreiz zu reagieren. Das bedeutet übrigens auch ein Stück weit Selbstschutz für Lehrer: einige »gestresste« Kollegen trugen viel dazu bei, ihren Stress zu vergrößern, indem sie ihre Kämpfe nicht klug wählten, d. h. nicht nur dort kämpften, wo es notwendig war. Einige von ihnen arbeiteten auch noch viel und waren damit in besonderer Weise stressgefährdet; ihre
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