Schumacher, Jens - Frozen - Tod im Eis
unbelehrbar. Dann ist ihm völlig egal, ob am Ziel seiner Reise gerade das schlechteste Wetter der Welt herrscht!« Sie lachte hell. Professor Albrecht, der sich noch immer mit panischem Gesichtsausdruck an seinem Sitz festhielt, starrte sie verständnislos an.
Dr. Cavanaugh unterrichtete Geschichte an der Universität von Toronto. Ein ziemlich lahmes Fach, wie Henry fand. Für eine Historikerin sah sie allerdings ungewöhnlich gut aus: knapp dreißig, langes dunkles Haar, durchtrainierte Figur. Wenn sie Expeditionskleidung trug und ihre Mähne wie jetzt zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, erinnerte sie frappierend an Lara Croft aus dem Computerspiel Tomb Raider.
»Antarktischer Winter?« Henry runzelte die Stirn. Auf ihrem Flug von Toronto nach Neuseeland hatte ihm Professor Albrecht ein Sachbuch über die Antarktis gegeben, damit er sich auf ihr Reiseziel einstimmen konnte. Leider war der Band gänzlich unbebildert und so trocken geschrieben, dass man wahrscheinlich über fünfzig, am besten aber Professor sein musste, um ihn einigermaßen unterhaltsam zu finden. Außerdem hatte das Bordkino der 747 ohne Unterbrechung brandaktuelle Actionfilme gezeigt, und so war Henry nur wenige Seiten über die Einleitung hinausgekommen. Nun wusste er zwar, dass die Antarktis so groß war wie Australien und Europa zusammen, dass sie mehr Sonnenschein abbekam als Kalifornien, kälter als ein Eisfach sein konnte und unbelebter war als die Sahara, aber er hatte keine Ahnung, wieso man nicht im April zum Südpol fliegen sollte.
Eileen Cavanaugh bemerkte seinen fragenden Blick. Sie umrundete den Gepäckberg und ließ sich neben ihm auf der Bank nieder. »So brauchen wir uns nicht die Seele aus dem Leib zu brüllen«, verkündete sie. Dann deutete sie auf eines der winzigen runden Bullaugenfenster in der gegenüberliegenden Bordwand. Wirbelndes Weiß war dahinter zu erkennen, wattige Wolkenschichten, die von enormen Auf- und Abwinden durchgequirlt wurden wie Milchshake in einem Mixer.
»Wenn auf der Nordhalbkugel Frühjahr herrscht, so wie jetzt, geht es auf der Südhalbkugel mit Riesenschritten auf den Winter zu«, erklärte sie.
Henry erinnerte sich an etwas, das er vor Jahren einmal in der Schule gelernt hatte. »Stimmt, die Jahreszeiten sind vertauscht. Weil die Erde schief im Weltraum hängt, nicht wahr?«
»Die Erdachse steht um dreiundzwanzigeinhalb Grad schräg, um genau zu sein.« Die Wissenschaftlerin nickte zustimmend. »Aufgrund dieser Neigung erreichen die Sonnenstrahlen während bestimmter Perioden einen der beiden Pole nicht. Das Resultat ist die sogenannte Polarnacht: fast vier Monate Dunkelheit, im einen Halbjahr auf der Nordseite, im anderen auf der Südhalbkugel.«
»Sie haben Ihre Hausaufgaben anscheinend gemacht, Dr. Cavanaugh … im Gegensatz zu mir!« Henry zuckte zerknirscht mit den Schultern.
»Sag Eileen zu mir. Und meine bescheidenen Kenntnisse habe ich alle hieraus.« Sie zog ein dünnes Büchlein aus einer Tasche ihrer Expeditionsmontur. Es war eine knallbunt illustrierte Info-Broschüre über die Antarktis. »Kannst du dir später gerne ausleihen. Und wenn ich dir einen guten Rat geben darf: Trau nie einer Lektüreempfehlung von Hilmar Albrecht.«
»Ich werd’s mir merken«, erwiderte Henry grinsend. »Aber um auf den Polarwinter zurückzukommen … soll das etwa heißen, wir werden dort unten die ganze Zeit im Dunkeln hocken?« Er verzog das Gesicht. »So hatte ich mir meinen Überraschungsbesuch bei Dad eigentlich nicht vorgestellt!«
Eileen schüttelte den Kopf. »Ganz so schlimm wird es nicht werden. Die südliche Polarnacht beginnt erst Anfang Mai, in manchen Gebieten noch später. Aber schon jetzt dauern die Nächte weit über zwölf Stunden und das Wetter verschlechtert sich zunehmend.« Sie warf einen mitleidigen Blick zu Professor Albrecht hinüber, der verkrampft auf seiner Bank hockte. Schweißperlen standen auf seiner hohen Stirn.
»Unser Pilot hat mir vor dem Start anvertraut, dass wir um diese Jahreszeit südlich des Polarkreises mit erheblichen Behinderungen rechnen müssen«, fuhr sie so leise fort, dass Henry sie gerade noch verstehen konnte. »Der antarktische Winter ist eine Zeit der Stürme, Windgeschwindigkeiten von bis zu 150 Stundenkilometern sind keine Seltenheit. Aus diesem Grund fliegt so spät im Jahr normalerweise niemand mehr hinunter. Die letzten Versorgungsflüge für die wenigen Forschungsstationen, die während des Winters bemannt bleiben, gehen im
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