Schwarze Blumen: Thriller (German Edition)
S o laufen die Dinge nicht.
Wenn Detective Sergeant Michael Sullivan in den zwölf Jahren bei der Polizei eines gelernt hat, dann das: Kleine Mädchen tauchen nicht einfach so auf. Nach seiner Erfahrung funktioniert die Welt nicht so. Nach allem, was er bisher gesehen hat, passiert in der Regel genau das Gegenteil: der langsame Verfall, der schleichende Niedergang von dem, was gut und richtig ist.
Menschen – besonders Kinder – gehen verloren. Manchmal in einem gleitenden Übergang, bei dem die anständigen Seiten an ihnen, die Hoffnung machen, kaum merklich ausgehöhlt werden; in anderen Fällen gewaltsam und mit einem Schlag. Und gelegentlich kommt es vor, dass Menschen einfach ganz verschwinden. Doch egal, wie es passiert, diese Menschen kommen nicht zurück, schon gar nicht die Kinder. Jedenfalls nicht in einer wünschenswerten Verfassung.
Nein, nach Michael Sullivans Erfahrung kennt die Welt nur das Nehmen.
Es ist ein früher Nachmittag im September 1977. Faverton ist ein langgestreckter Ferienort an der Ostküste. Das alte Dorf auf dem Hügel zieht sich mit seinen kopfsteingepflasterten Gassen bis zur Strandpromenade, den billigen Spielhallen und Cafés hinunter. Hier ist der Asphalt von den braunen Metallschienen der Straßenbahn durchzogen. Zwischen Straße und Meer liegt eine lange Holzbohlen-Promenade, in die verschnörkelte grüne Bänke, Abfallkörbe aus Drahtgeflecht und beige Eiswagen eingesprengt sind. Gemächlich schlendern hier Familien entlang, die ab und zu an die halbhohe Steinbrüstung treten und auf den Strand hinunterblicken. Der Sand ist hart und fest; nur hier und da hat ein Kind beim Buddeln eine Stelle aufgewühlt. In der Ferne liegen die Knitterfalten der grauen See unter einem von Möwen gesäumten weißen Himmel.
Es ist ein gewöhnlicher Tag ohne den leisesten Anflug von Magie. Und doch passiert diese Sache, Sullivans Erfahrung zum Trotz, einfach so.
Es gibt dort ein leeres Stück Promenade. Eine Straßenbahn trudelt vorbei. Sie ist so alt, und die eisernen Triebwagen sind so ramponiert, dass man sich nicht wundern würde, wenn der Stromabnehmer, der die Oberleitungen entlangstreicht, knistern und Funken sprühen würde, doch tatsächlich beschränken sich die Geräusche auf das müde Mahlen der Metallscheiben, auf denen das Gefährt durch die Stadt schleift. Meistens ist die Bahn leer und erinnert an einen Butler, der wie gewohnt seinen täglichen Pflichten im Haushalt nachkommt, nachdem alle Kinder längst ausgezogen sind. Der Fahrer hinter der verschmierten Windschutzscheibe hält die Steuerung mit steifen, reglosen Armen, während an der offenen Ecke der Straßenbahn ein Schaffner mit einem Münzer steht, der ihm wie ein winziges Akkordeon an einem Riemen um den Hals hängt.
Die Bahn hält nicht an. Niemand steigt ein oder aus. Doch als sie langsam weiterfährt, ist die Promenade nicht mehr menschenleer.
Dort steht ein kleines Mädchen.
Die Kleine hat langes, dunkelblondes Haar, das seitlich zu lockeren Zöpfen zusammengebunden ist und ihr auf die zarten Schultern fällt. Sie trägt ein blau-weiß kariertes Kleid und zierliche Schuhe; beides sieht so aus, als passte es eher zu einer Puppe. Unter den Augen hat sie dunkle, traurige Ringe. Vor dem Bauch hält sie eine Handtasche fest. Sie ist hellbraun, aus Leder und für sie viel zu groß – eine Tasche für Erwachsene –, doch sie hält sie umkrallt, als wäre sie schon sehr lange in ihrem Besitz und ihr ungeheuer wichtig.
Das kleine Mädchen steht da.
Und wartet.
Und so fängt es an. Sie taucht wie aus dem Nichts auf der Promenade auf: so als drehte sich die Welt im Schlaf auf die andere Seite und erwachte plötzlich mit einer Idee, die so wichtig ist, so dringend mitgeteilt werden muss, dass sie reale Gestalt annimmt. Und jetzt steht diese Idee da und wartet darauf, entdeckt zu werden.
Wartet darauf, dass sich jemand ihrer annimmt.
Sullivan hockt sich vor das kleine Mädchen hin. Sein steif gebügeltes Hosenbein bildet vom Knie herauf und über dem Oberschenkel einen scharfen Kniff. Ihr Blick folgt seiner Bewegung. Sie sind jetzt auf Augenhöhe, und er lächelt sie an, um ihr die Angst zu nehmen.
»Hallo. Wie heißt du?«
Das kleine Mädchen antwortet nicht. Ihr Gesichtsausdruck ist wie ein Panzer. Für ein Kind in ihrem Alter ist sie viel zu ernst, und Sullivan weiß sofort, dass hier etwas nicht stimmt.
Für einen Moment wendet er den Blick ab. Die Frau, der das kleine Mädchen aufgefallen war und die
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