Schwarze Blumen: Thriller (German Edition)
ihn benachrichtigt hat, steht zögernd in einigem Abstand. Sie ist in mittlerem Alter und hält ihre eigene Handtasche fast genauso wie das Mädchen. Sullivan nickt ihr zum Dank noch einmal zu – das wird schon, ich kümmere mich darum – und wendet sich, als die Frau geht, wieder dem Kind zu.
An diesem Punkt weiß er nicht, dass er noch einmal mit der Frau sprechen muss, um sich über die genauen Umstände, unter denen das Mädchen hier gefunden wurde, Klarheit zu verschaffen. Auch wenn er begreift, dass etwas nicht stimmt, ist ihm die Erkenntnis noch nicht ganz ins Bewusstsein gedrungen. Im Moment denkt er immer noch: Sie hat sich verlaufen und sucht ihre Eltern. Weiter nichts.
»Ich heiße Mike«, sagt er. »Und du?«
Auch diesmal antwortet das Mädchen nicht, doch nachdem sie ihn ihrerseits eine Weile angestarrt hat, wendet sie den Blick zur Seite. Und sie sagt auch etwas, doch er versteht nicht, was. Es ist, als spräche sie mit einem Geist oder bäte einen imaginären Freund um Rat.
Kann ich mit ihm reden? Ist es sicher?
»Was hast du gesagt?«, fragt er.
Sie sieht immer noch weg. Hört jetzt zu.
Gott, denkt Sullivan – weil ihm gerade etwas anderes dämmert: Die Kleine hier sieht wahrhaftig wie sie aus. Anna Hanson, das Mädchen, das letztes Jahr ermordet wurde. Sie sind beide etwa im selben Alter, ungefähr sechs, und Anna hatte dasselbe buschige dunkelblonde Haar. Irritiert durch die Ähnlichkeit und das befremdliche Verhalten des kleinen Mädchens, läuft Sullivan ein Schauder den Rücken herunter. Er hat das seltsame Gefühl, dass sie es vielleicht tatsächlich ist und zu ihren verzweifelten, trauernden Eltern zurückkehrt.
Natürlich ist das unmöglich, nicht zuletzt, weil Anna Hanson bereits zurückgekehrt ist – als Leiche an den Strand gespült: winzig zart, grau und leer. Die Ähnlichkeit ist allerdings frappierend, und er hat plötzlich das dringende Bedürfnis, sich um dieses kleine Mädchen zu kümmern und es zu beschützen.
Sie sieht ihn wieder an. In seiner ganzen zwölfjährigen Dienstzeit hat er noch nie eine solche Verzweiflung gesehen.
»Das wird schon«, sagt er. »Ich bin Polizist. Hast du deine Mummy oder deinen Daddy verloren?«
»Meinen Daddy.«
Ihre Stimme ist unglaublich zart.
»Also, wir können ihn bestimmt schnell finden …«
Doch er hält inne. Der Schrecken, der dem kleinen Mädchen ins Gesicht geschrieben steht, zeigt, dass dies die letzte Antwort ist, die sie hören will. Ihr kleiner Körper zittert ein wenig.
Instinktiv, ohne sich zu überlegen, wie sie reagieren wird, legt ihr Sullivan die Hand auf die Schulter und spürt den rauhen Stoff des Kleides unter den Fingern. Das kleine Mädchen zuckt nur ein wenig zusammen, rührt sich jedoch nicht vom Fleck. Das instinktive, verzweifelte Bedürfnis, getröstet zu werden, siegt über die Angst. Es scheint, als habe sie schon eine ganze Weile keine Zuwendung oder Freundlichkeit erfahren, wenn überhaupt jemals, und als koste es sie Mut – einen ungeheuren Vertrauensvorschuss –, auch nur an die Möglichkeit zu glauben.
»Das wird schon, Schätzchen«, sagt Sullivan.
Wieder sieht er sich um. Ein paar Passanten beobachten die Szene, doch die meisten gehen einfach weiter und nehmen von ihnen entweder keine Notiz oder sind davon überzeugt, dass alles seine Ordnung hat. Ein Polizist ist schließlich Herr der Lage. Nach allgemeiner Übereinkunft hat er die Aufgabe, sich um Leute zu kümmern.
Sullivan ist im Begriff, sich wieder dem kleinen Mädchen zuzuwenden, um genau das zu tun, als er den Mann sieht und innehält.
Clark Poole.
Der Greis läuft schwerfällig auf der anderen Straßenseite jenseits der Straßenbahnschienen den Bürgersteig entlang. Er hat einen leichten Buckel, und über seiner Rückgratverkrümmung ist seine Jacke speckig, als ob das Alter nach und nach seinen ganzen Rücken in ein Geschwür verwandelt hätte, das in der Mitte weich ist und nässt. Sein bleicher Kopf ist bis auf einen weißen Haarkranz, der ihm an den Schläfen klebt, kahl und sein jetzt abgewandtes Gesicht mürrisch und breit. Poole geht an einem Rohrstock, den er, wie Sullivan vermutet – ohne es beweisen zu können –, eigentlich nicht braucht.
Tapp, tapp.
Zuerst glaubt Sullivan, Poole hätte ihn nicht gesehen. Doch vor dem Café bleibt der Alte stehen, dreht sich um und erwidert seinen Blick. Poole lächelt und nickt – wie so oft – Sullivan genüsslich zu, bevor er sich abwendet und weiter seines Weges
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