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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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von draußen hören. Was gab es im Theater? Wen hatten sie noch verhaftet? Auch die Lage in Spanien interessierte die Gefangenen. Wie stark war Franco? Und die Interbrigaden? Trotz ihrer misslichen Lage ließ sie die politische Entwicklung nicht kalt. Der Spanienkrieg elektrisierte das Land, hoffte man doch, die Isolation Sowjetrusslands könne endlich aufgebrochen werden. Aber der Traum war längst ausgeträumt, es würde kein sozialistisches Spanien geben. Wer zu denken vermochte, wusste das. Es offen auszusprechen, wagte niemand.
    So hoffnungsvoll ihn die Häftlinge auch anstarrten, Lorenz hielt «die Zunge hinter den Zähnen», wie es ein russisches Sprichwort dringend riet. Seine Antworten klangen wie Verlautbarungen aus der «Prawda». Die Gefangenen winkten bald ab. Der war zwar ein Redakteur, aber etwas Vernünftiges aus ihm herauszukriegen schien unmöglich.
    Der innere Lernprozess dauerte genau drei Tage. Dann war auch Lorenz klar, dass alle, ausnahmslos alle, die mit ihm in der Zelle saßen, genauso schuldig waren wie er. Also unschuldig. Drei Tage, das war gut. Andere brauchten länger. Manche glaubten bis zuletzt, dass der große Stalin von all den Verbrechen nichts wusste. Ja, nichts wissen konnte. Viele bezahlten diesen Irrtum mit dem Leben.
    So saßen in der Zelle außer dem Dirigenten und dem Arzt ein Buchhalter des Stadtsowjets, ein Filmvorführer aus dem Kino, ein Instrukteur der örtlichen Feuerwehr und auch ein Mathematiklehrer. Letzterer war ein sonderbarer Mensch, der sich stets etwas abseits hielt, soweit dies auf dem engen Raum möglich war. Er hatte ein fahles, längliches Gesicht, mit einer für seine magere Gestalt bemerkenswerten Nase. Aus seinem grauen Unterhemd – das karierte Oberhemd hatte er säuberlich gefaltet auf der Pritsche liegen – stachen an der Brust und unter den Armen ganze Büschel von Haaren hervor. Er fragte nichts, er sagte nichts. Den ganzen Tag hockte er auf den Knien, gebeugt über einen Holzschemel. Er schrieb, verwarf das Geschriebene und schrieb aufs Neue.
    Es war ein Brief an den Genossen Stalin. Die zehnte, die fünfzehnte oder die fünfzigste Fassung – keiner wusste es. Er auch nicht. Grigori Maximowitsch, mit Nachnamen Krütschkow oder Krükow, hatte für seine letzten Rubel einem Wärter ein Heft und einen zerbissenen Kopierstift abgekauft. Der Besitz von Schreibzeug war Gefangenen verboten, aber wenn es um ein Geschäft ging, konnte man bei der Wachmannschaft alles bekommen. Vorausgesetzt, man hatte es geschafft, ein paar Scheine in die Zelle zu schmuggeln.
    So kauerte der Lehrer vor dem Hocker und überlegte, mit welchen Worten er wohl am ehesten das Herz des Vaters aller Völker erweichen könnte. Er war tief davon überzeugt, dass der geniale Bannerträger der Menschheit nicht wusste, ja, nicht wissen konnte, welche Ungerechtigkeit ihm und vielen anderen ehrlichen Erbauern des Kommunismus widerfahren war. Also galt es, ihm im fernen Kreml eine Botschaft zu übermitteln. Dann würde der Zorn des Genossen Stalin die Missetäter mit aller Härte treffen, und er, Grigori Maximowitsch, würde als Held in die Geschichte eingehen. Vielleicht sogar als Held der Arbeit. Manchmal, vor dem Einschlafen, sah er sich mit dem Orden an seiner Brust über den Boulevard spazieren. Und alle Menschen grüßten ihn freudig. Der Glaube an den guten Zaren im fernen Moskau, dieser Glaube schien in diesem Volk unausrottbar.
    Auf den Spott seiner Zellennachbarn reagierte der Lehrer nicht. Auf ungebetene Empfehlungen auch nicht. Er kannte seine ganz persönliche Mission und war ihr mit seinem ganzen Wesen verfallen. Mochten sie nur lachen, ohne seinen Brief kämen sie aus dem Loch nie mehr heraus. So blieb er auch ungerührt, als der Veterinär Schukow, den in der Zelle alle nur Tolik nannten, auf seinem täglichen Marsch von einer Zellenwand zur anderen vor dem Schreibtischhocker stehen blieb.
    «Grischa, ah, Grischa? Hörst du mich? Grischa?»
    Doch Grigori Maximowitsch hörte ihn nicht. Oder er wollte ihn nicht hören. Jedenfalls zuckte er nicht. Der Tierarzt, der eher wie ein Preisboxer aussah, ließ nicht locker. Lorenz verstand schnell, es war nicht das erste Gespräch zwischen den beiden, vielmehr klang es wie ein Stück aus einem Fortsetzungsroman.
    Tolik gehörte zu den Starostas, den Ältesten der Zelle. Er saß seit mehreren Monaten, ohne dass sich in seiner Sache etwas bewegt hätte. Sein Vergehen war die Maul- und Klauenseuche. Die konnte er in den Kolchosen

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