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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Ferne. Er saß auf dem Boden mit dem Rücken zur Wand und dachte nach.
    War das alles falsch?
    War es falsch, Deutschland zu verlassen?
    War es falsch, nach Russland zu gehen?
    War es falsch zu studieren?
    Journalist zu werden?
    Hierzubleiben?
    Seine Freunde, die er damals zurückgelassen hatte, kämpften jetzt im Untergrund. Einige waren verhaftet worden. Anderen war die Gestapo auf der Spur. Doch sie alle wussten genau, wer der Feind ist, wo er steht. Das war hier anders. Ganz anders. Der Feind war mitten unter ihnen. Und wer Feind, wer Freund war, wie sollte man das noch unterscheiden.
    Trotzdem, in Deutschland wäre er das geblieben, was er war: ein Schlosser, ohne jegliche Chance, mehr daraus machen zu können. Universität? Vergiss es. Tolstoj, Dostojewski, Flaubert, France – nie wäre er mit ihnen in Berührung gekommen. Arbeit in einer Redaktion, Theater, eigene Gedichte? Daran wäre nicht zu denken gewesen. Und noch war ja seine Geschichte nicht zu Ende.
    Obwohl, die Hoffnung des ersten Tages, bald würde sich alles aufklären, diese Hoffnung war nicht mehr. Die Erzählungen der anderen, zumindest soweit sie von ihrer ganz persönlichen «Sache» wussten, klangen so unglaublich wie seine eigene. Nun saßen sie und warteten darauf, was kam. Hin und wieder führten die Wachen einen zum Verhör in den Keller. Der kehrte dann schweigsam zurück. Manche wurden auch gebracht. Die Wachleute schmissen ihre reglosen, von Tritten und Schlägen gezeichneten Körper auf den Boden. Wer sich aus eigener Kraft auf die Pritsche ziehen konnte, war noch einmal davongekommen. Für gewöhnlich passierte das vor Mitternacht. Und jeder, der nicht aufgefordert wurde, mit den Wachen zu gehen, war froh. Dann war es nicht mehr so schlimm, auf der Pritsche Körper an Körper mit zwei anderen zu liegen.
    Wie man sich beim ersten Verhör verhalten sollte, darüber gingen die Meinungen in der Zelle auseinander. Die einen rieten Lorenz, wenn es nur irgendwie ginge, zu schweigen. Jedes überflüssige Wort ergab ein Dutzend neuer Fragen. Bis man am Ende nicht mehr wusste, was man am Anfang gesagt hatte. «Meine Zunge ist mein Feind», die alte russische Weisheit konnten sie nicht oft genug wiederholen. Die andere Fraktion lehnte diese Verteidigungslinie ab und schwor darauf, dass man sich für das Verhör eine gute Geschichte zurechtlegen und, komme, was da wolle, dabei bleiben solle. Schweigen bringe die Ermittler nur in Rage, dann konnte man froh sein, wenn sie einen nur mit den Fäusten schlugen. Der Mann, der diese Meinung am heftigsten vertrat, ein Archivar, machte allerdings nicht den Eindruck, als wäre seine Taktik aufgegangen. Ihm fehlten alle Vorderzähne, oben und unten. Das klaffende Loch im Gebiss sah sehr frisch aus.
    Verhöre, Schläge, Folter … Was lag eigentlich gegen ihn vor? Lorenz zermarterte sich den Kopf, er fand nichts. Die Ungewissheit dauerte volle acht Tage. Dann holten sie ihn, am späten Abend, kurz bevor das Licht ausgeschaltet wurde. Jetzt, schoss es ihm durch den Kopf, mussten sie ihm endlich sagen, was er verbrochen hatte. Jetzt konnte er endlich selbst Fragen stellen. Und jetzt würde sich alles aufklären. Endlich.
    Sein Untersuchungsführer trug den schönen Namen Schrottkin. Wie Schrott, eigentlich zum Lachen. Schrottkin, Nikolaj Petrowitsch. Und: Schrottkin war dumm. Primitiv und dumm. Daran konnte es bereits nach der ersten halben Stunde ihrer Bekanntschaft keinen Zweifel geben. Bei seinem grausamen Handwerk vertrat er die Auffassung, das einzig Richtige sei, den Willen des Häftlings sofort zu brechen. Sei es mit Drohungen, sei es mit Gewalt. Er galt als besonders brutal und skrupellos. Was seine Vorgesetzten schätzten: Es hatte ihm den Rang eines Hauptmanns und mehrere Urkunden vom Kommissariat des Inneren eingebracht.
    Groß, wenn auch etwas krumm gewachsen, hatte Schrottkin ein spitzes, von frühen Falten zerfurchtes Gesicht, das ein dünnes, in täglicher Kleinarbeit ausrasiertes Bärtchen umrahmte. Wenn er brüllte, sah man die Stahlkronen seines Gebisses glänzen. Dazu musste er die Kasbek-Papirossa, auf der er ansonsten ständig kaute, aus seinem linken Mundwinkel nehmen. Die Schirmmütze seiner Uniform, die der rote Stern mit Hammer und Sichel zierte, setzte Schrottkin nur ab, um sich in Momenten der Erregung mit der Hand über die dunkle Haartolle zu streichen. Er roch kräftig nach süßlichem Parfüm. Hieß es «Rotes Moskau»?, fragte sich Lorenz. Aber dann wäre es ja ein Damenduft.

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